Donnerstag, 18. April 2024

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Reihe: "Kopf oder Bauch"
"Wir sind Gefühlstierchen"

Bauch hin oder her - wir sind Gefühlstierchen und haben Sensibilitäten, die sich nicht rational kontrollieren lassen, sagt der Philosoph und Künstler Marcus Steinweg. Für jeden existiere aber auch Rationalität, die Fähigkeit zur Analyse und zur gedanklichen Verständigung und Kommunikation. Es gebe keinen Grund, diese Option auszuschlagen.

Marcus Steinweg im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 03.01.2017
    Schwarz-Weiß-Aufnahme der Skulptur "Der Denker" aus dem Jahre 1904 des berühmten französischen Bildhauers, Grafikers und Malers Auguste Rodin (12.11.1840 - 17.11.1917).
    "Sobald wir beginnen zu denken, löst sich das Gewebe unserer Realitätsvorstellungen", sagt der Künstler und Philosoph Marcus Steinweg (dpa)
    Doris Schäfer-Noske: Wenn etwas genau anders kommt als erwartet, dann gerät unser Weltbild ins Wanken. 2016 hat mit dem Brexit und der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten viele Menschen verunsichert. Angstmacherei, Hassbotschaften und diskriminierende Parolen hatten schon zuvor für eine Stimmung gesorgt, in der ein friedliches Miteinandersprechen oft schwierig war. "Postfaktisch" wurde zum Wort des Jahres und steht dafür, dass solche Stimmungen, gespeist auch aus Unwahrheiten oder sogar Lügen, gegenüber sichtbaren Wahrheiten und Tatsachen gewonnen haben. In unserer Interview-Reihe zu Gefühl und Vernunft im postfaktischen Zeitalter spreche ich heute mit dem Philosophen und Künstler Marcus Steinweg. Herr Steinweg, "Evidenzterror", so heißt ein Buch von Ihnen aus dem Jahr 2015, eine Sammlung von Aphorismen und Kurztexten. Und Evidenz bedeutet ja, dass dem Augenschein nach unbezweifelbar Erkennbare. Ist denn aus dem Evidenzterror inzwischen ein Emotionsterror geworden?
    Marcus Steinweg: Vielleicht konnte man das nie so trennen. Aber in jedem Fall könnte man das Wort Evidenz mit Selbstverständlichkeit übersetzen. Und hier ist eben die Frage, wie selbstverständlich ist das, was wir selbstverständlich nennen, oder gibt es da nicht noch eine Notwendigkeit, das Selbstverständliche oder das vermeintlich Selbstverständliche weiter zu befragen. Und tatsächlich würde ich das Philosophie nennen, und das betrifft natürlich auch unsere emotionalen Ökonomien, denn wir sind ja emotionale Wesen, und auch unser Denken ist Ausdruck von Affekten und ist nicht ganz gereinigt von Leidenschaften, von Affekten und auch von negativen Affekten wie Ressentiments. Also, wenn man das politisch sieht, dann kann man doch heute sehen, wie natürlich immer schon auf eine gewisse Art, dass ein großer Teil unserer politischen Evidenzen oder Pseudoevidenzen, also unserer Gewissheiten, dass die Ergebnisse sind auch von Ressentiments, also von Ängsten. Und die kommen aus dem Gefühl der Benachteiligung oft. Da würde ich auch niemanden ausnehmen im politischen Spiel oder im gesellschaftlichen Spiel. Da müssen wir uns alle prüfen und befragen und das nicht nur den anderen in die Schuhe schieben.
    "Sobald wir beginnen zu denken, löst sich das Gewebe unserer Realitätsvorstellungen"
    Schäfer-Noske: Das heißt, wenn Sie sagen, man soll Tatsachen nicht trauen, dann geht es im Grunde darum, dass wir sagen, Tatsachen beruhen auf Emotionen, und wir müssen uns dieser Sache vergewissern?
    Steinweg: Ich sage nicht, dass keine Tatsachen existieren. Ich habe auch jetzt nichts mit dem Postfaktischen zu tun. In meinen Büchern stelle ich natürlich auch den Begriff der Tatsache zur Disposition, das heißt, in Frage, weil Tatsachen nichts als Tatsachen sind. Das heißt nicht, dass es keine Tatsachen gibt, oder dass wir über keinerlei Tatsachen verfügen. Aber wir müssen auch verstehen, dass das, was wir Tatsachen nennen, mit bestimmten Perspektiven, mit bestimmten Interpretationen zu tun hat. Ich bin hier nicht in irgendeiner postmodernen Relativierung, sondern ich glaube, sobald wir überhaupt also beginnen zu denken, zu prüfen, unsere Selbstverständlichkeiten zu prüfen, unsere Evidenzen infrage zu stellen, löst sich das Gewebe unserer Realitätsvorstellungen, unseres Realitätsbilds, das heißt unserer Welt, schrittweise auf, und wir lernen, dass diese Welt oder unsere Realität nicht so beständig, nicht so konsistent ist wie das Wort oder die Verwendung des Begriffs Tatsache es uns suggerieren möchte. Und ich glaube, dem sollte man sich stellen, um nicht auf Tatsachen oder Evidenzen oder Gewissheiten hereinzufallen, die gar keine sind.
    Schäfer-Noske: Wie würden Sie denn in diesem Zusammenhang dann den Begriff Lüge definieren?
    Steinweg: Das ist eine sehr große Frage, die die gesamte abendländische Philosophiegeschichte durchzieht, die für jeden von uns eine Überforderung darstellt. Zumindest würde ich eine Antwort auf diese Frage beginnen mit der Feststellung, dass es nicht so leicht ist, das, was wir Lüge nennen, zu trennen von dem, was uns als konsistente Tatsachenwahrheit erscheint. Ich würde daran erinnern, dass Begriffe Funktionen haben, und auch der Begriff der Lüge, wenn wir jemandem Lüge vorwerfen, dann kann das aus einer Position des Ressentiments, einer Beleidigtheit kommen, also wie das Wort Lügenpresse aus einem rechten Milieu, in einem rechten Milieu verwandt wird. Und wir müssen dann prüfen, was ist damit gemeint. Da fühlt sich jemand belogen, und vielleicht ist da auch das Gefühl, belogen zu sein, bereits eine Lüge, die als solche gar nicht erkannt worden ist. Aber in jedem Fall sind unsere Realitäten komplex. Ich bin hier nicht dafür, überhastet zu urteilen, sondern ich glaube, zum philosophischen Denken gehört immer noch der Wunsch oder das Begehren, auf der Höhe der Komplexität unserer Realität und unserer sozialen, kulturellen, politischen Realitäten, ökonomisch kodifizierten Realitäten, also unserer Welt, die überkomplex ist und eine Überforderung darstellt für uns alle, zu existieren. Und Denken stellt sich eben dieser Komplexität und Überkomplexität, statt in Vereinfachung auszuweichen, die dann unmittelbar ins Reaktionäre führen.
    "Ich bin für mehr Rationalität, für mehr Analyse, für mehr genaues Hinschauen"
    Schäfer-Noske: Nun ist es ja so, dass gerade aufgrund dieser Komplexität der Realität ja auch Philosophen wie Sie gern herangezogen werden, um diese komplexen Zusammenhänge zu erklären. Im Übertitel unsere Interviewreihe wird ja die Frage "Kopf oder Bauch" gestellt. Ist denn der Bauch in unserer Gesellschaft vielleicht zu lange unterdrückt worden und ist jetzt dabei, zu rebellieren?
    Steinweg: Nein, das glaube ich gar nicht. Ich würde eher davor warnen, vor einem neuen Obskurantismus des Körpers zum Beispiel, ein Körperobskurantismus, und da wäre der Bauch, von dem Sie vielleicht sprechen, auch das Bauchgefühl, das ja da anklingt, impliziert. Im Gegenteil, ich bin für mehr Rationalität, bin für mehr Analyse, bin für mehr genaues Hinschauen. Das impliziert eben gleichzeitig auch eine Prüfung unserer begrenzten Kapazitäten, unserer begrenzten rationalen Kapazitäten. Aber diese klassische, sagen wir, Differenz-Gefühle einerseits oder Intuitionen, auch eine beliebte Vokabel, dass Leute sagen, ich verlasse mich auf meine Intuition. Ich finde, man tritt damit fast unmittelbar in die Ideologie ein, und ich finde, das sind sehr ideologische Vokabeln, sehr problematische Vokabeln. Aber das Gegenteil eben, ein Überrationalismus ist nicht weniger ideologisch. Mein Vorschlag ist hier ganz einfach, Bauch hin oder her, in jedem Falle, wir sind Gefühlstierchen, wie alle, und wir haben unsere Sensibilitäten, die sich nicht vollständig rational kontrollieren lassen. Aber auch unsere Rationalität und unsere Fähigkeit zur Analyse und zur gedanklichen Verständigung und Kommunikation, die existiert eigentlich für jeden von uns als Option, und ich sehe keinen Grund, diese Option auszuschlagen.
    Schäfer-Noske: An der Volksbühne haben Sie eine philosophische Reihe mit dem Titel "Überstürztes Denken". Was bedeutet da für Sie Überstürzung?
    Steinweg: Dass zum Denken Kopflosigkeit gehört. Und hier würde ich jetzt nicht vom Bauch sprechen, aber ich würde sagen, dass ein Denken, das nicht die Hand vom Geländer nimmt, wie Hannah Arendt das formuliert hat, das wäre am Ende einfach nur ein Ausdruck von Denkverweigerung. Und zum Denken gehört auch ein gewisser Mut und die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, dort hinzugehen, wo man noch nicht war. Also ein Minimum an Bereitschaft zur Öffnung aufs Unbestimmte, gehört zu jedem Denken, das mehr sein will als Administration der aktuellen Tatsachengewissheiten, denn die konstituieren ja gerade das, was Adorno und Horkheimer "Die Macht des Bestehenden" genannt haben, also eine Realität, die von sich aus vorschlägt, nicht mehr befragt zu werden.
    "Auf der Rechten gibt es für mich überhaupt keine Option"
    Schäfer-Noske: Sie sprechen sich auch dagegen aus, politisch korrekt zu sein. Warum?
    Steinweg: Ich bin überhaupt nicht für Korrektheit. Da geht es gar nicht um politische Korrektheit. Gewisse Ziele der politischen Korrektheit teile ich, die elementaren, ursprünglichen Ziele, selbstverständlich. Ich bin ein Linker, aber ich bin auch ein linkskritischer Linker. Auf der Rechten gibt es für mich überhaupt keine Option, das ist für mich einfach aktives Nichtdenken und eine Dämlichkeit, die ich kaum ertragen kann. Aber für mich heißt Linkssein auch, seine eigenen Parameter, seine eigenen Instrumente zu befragen und sich nicht unmittelbar in eine Richtigkeitsideologie zu werfen, die natürlich zu einer guten Gewissenshaltung führt, die am Ende ins Reaktionäre führt. Die großen linken Denker wie Adorno, die ich weiterhin lese, also seit 20, 25 Jahren lese, sind Denker, die das wussten, dass wir natürlich auch unsere eigenen Begriffe und Instrumente befragen müssen. Und heute gibt es natürlich verstärkt eine Tendenz, möglichst sich auf die sichere Seite zu bringen, auf die Seite derer, die das Richtige tun. Und ich meine, das war doch früher immer rechts, dass die Leute gesagt haben, was man zu tun habe, wie man zu denken habe oder wie man sich zu kleiden habe, um in die Kirche zu gehen, um dort nicht irgendwie unangenehm aufzufallen, oder mit welcher Frisur und so weiter. Und ich finde es erstaunlich, dass es heute diese Geste so stark irgendwie auch von einer Haltung okkupiert wird, übernommen wird, die sich links nennt, aber eigentlich zu großen Teilen ins Reaktionäre gerutscht ist, ohne es zu merken. Nein, nein, ich verteidige hier die klassische Linke als die, die Selbstkritik als notwendig und konstitutiv für ihre eigene Praxis affirmiert.
    Schäfer-Noske: Das war der Philosoph und Künstler Marcus Steinweg in unserer Interviewreihe "Kopf oder Bauch? Zum Verhältnis von Gefühl und Vernunft im postfaktischen Zeitalter".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.