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Reihe: Leben in der digitalisierten Welt
Freiwillige Aufgabe von Privatssphäre

Tagesablauf, Bargeldausgaben, Reisen: All das protokolliert der Blogger, Netztheoretiker und Autor Christian Heller in aller Öffentlichkeit auf seiner Webseite. "Privatsphäre ist ein Auslaufmodell", sagt er, und was man stattdessen gewinnt, sei "stärkere Kommunikation von allen mit allen".

Christian Heller im Gespräch mit Michael Köhler | 06.08.2014
    Ein Mann sitzt an einem Computer, daneben eine Kamera.
    Nachvollziehbare Daten stellt Christian Hller ins Netz. (dpa/Armin Weigel)
    Michael Köhler: TomTom - und GPS und Facebook und Google Street View und meinVZ und Wer-kennt-Wen und so weiter und so weiter, um nur ganz wenige zu nennen, all die haben unseren Begriff von Privatheit, von Transparenz und Obszönität nämlich heftig verändert. In unserer Serie "Leben in der digitalen Welt" haben wir es heute buchstäblich mit einem praktischen Lebenselement zu tun: der bewussten Entscheidung gegen Privatheit - im herkömmlichen Sinn.
    Christian Heller ist Blogger und Netztheoretiker, Autor eines Buches, das heißt "Post-Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre", und betreibt seit zehn Jahren diverse publizistische Webprojekte. In seinem PlomWiki, da protokolliert er etwa seinen Tagesablauf und auch seine Bargeldausgaben. Wir sind, was wir sind durch die Privatsphäre. Was ist aber unter Bedingungen von Sharing- und Streaming-Kultur dann noch Privatheit? "Die Privatsphäre ist ein Auslaufmodell", so lautet der erste Satz in Ihrem Buch - Christian Heller, ist das so?
    Christian Heller: Ja, zumindest bin ich davon überzeugt, dass es so ist, sonst hätte ich es nicht so ins Buch geschrieben.
    Köhler: Welche Erfahrungen haben Sie damit? Sie haben sich mal quasi ein gutes Jahr lang komplett öffentlich gemacht.
    Heller: Ich glaube, ein gutes Jahr lang ist das falsche Zeitmaß. Ich tue das schon seit Längerem und habe auch nicht damit aufgehört oder es zurückgefahren.
    Tagesablauf nachvollziehbar
    Köhler: Das heißt, ich kann all Ihre Bewegungen im Tatsächlichen, im Ökonomischen und so weiter nachverfolgen, was Sie ausgeben, wo Sie hingehen, was Sie tun, wie Sie denken, wie Sie fühlen?
    Heller: Na ja, einiges davon in einer gewissen Detailliertheit, so Dinge wie, was ich fühle, schreibe ich, glaube ich, nicht sehr ausführlich ins Netz, einfach weil sich das auch schlecht quantifizieren lässt, sprich in Zahlen auflösen oder in Buchstaben, aber so Daten, was meine Kontobewegungen sind oder wie ich meinen Tag zeitlich einteile und teilweise auch, wo ich mich wann aufhalte, kann man recht genau nachvollziehen.
    Köhler: Das heißt, wir können nachher auch nachlesen, dass Sie heute mit mir gesprochen haben oder uns?
    Heller: Man kann nachlesen, dass ich mich irgendwann auf den Weg zu diesem Interview gemacht habe und wahrscheinlich auch, von wann bis wann es ungefähr lief. Dass ich mich mit Ihnen unterhalte habe, kann man vielleicht nicht so genau nachlesen, weil ich versuche aufzupassen, inwieweit ich Dritte mit entblöße.
    "Bedrohliche Aspekte" möglich
    Köhler: Es scheint ja Konsens zu sein, dass man diese Form, alles einsehen zu können, oder auch ein gewisser Verlust von Kontrolle, dass man das als bedrohend empfindet. Sie sehen das nicht so.
    Heller: Ich sehe schon, dass es da bedrohliche Aspekte geben kann, ich glaube aber, dass einerseits auch viele Chancen dabei hinzukommen und dass andererseits viele Bedrohungen, die wir damit assoziieren, eigentlich eher an anderen Dingen liegen und nicht so sehr daran, dass wir jetzt ein paar mehr Informationen über uns preisgeben.
    Köhler: Sie teilen die Einschätzung, die Privatsphäre werde bedrängt, teilen aber nicht die Aufforderung, die damit einhergeht, sie zu verteidigen?
    Heller: Ich glaube, in Einzelfällen kann es schon Sinn machen, seine eigene Privatsphäre ein bisschen zu verteidigen, man muss sich dann aber nur bewusst machen, dass das ein Rückzugsgefecht ist, sprich, dass dieser Kampf zur Verteidigung der Privatsphäre vielleicht noch so einige Verzögerungen der eigenen Entblößung mit sich bringen kann, aber langfristig nicht gewonnen werden kann.
    Positive Seiten der Entwicklung
    Köhler: Ihr Buch, das 2011 erschienen ist, hat einen herausfordernden Untertitel: "Prima leben ohne Privatsphäre". Was wird gewonnen?
    Heller: Erst mal die stärkere Kommunikation von allen mit allen. Das kann man durchaus als bedrängend empfinden, aber ich glaube, dass es auch sehr viele positive Seiten mit sich bringt. Also wenn man viel mehr voneinander weiß, kann man sich viel besser abschätzen, nimmt man viele Dinge vielleicht als weniger bedrohlich wahr, weil man hier und da genauer hinschauen kann, ob sich irgendwo eine Gefahr verbirgt oder nicht.
    Man kann sich sehr viel besser absprechen, verabreden, miteinander organisieren, um gemeinsame Interessen durchzusetzen. Das sind, denke ich, die Hauptvorteile des Ganzen. Es kann diverse Gefahren transparenter und damit auch besser zu handeln machen, es kann auch hier und da bestimmte Arten von, sagen wir mal, Ungleichgewicht oder Ungerechtigkeit Bedrängung bringen, also zum Beispiel, wenn Leute sehr viel besser untereinander informiert sind, wer wie viel warum verdient. Ich glaube, solche Dinge sind positive Seiten der Entwicklung.
    Gewinn an sozialen Anschluss
    Köhler: Verstehe ich Sie richtig, man verliert sich nicht nur, sondern gewinnt auch was?
    Heller: Man gewinnt einerseits viel mehr Anschluss, also sozialen Anschluss, kommunikativen Anschluss an die Welt, kann natürlich auch vielleicht Leute finden, die dann sehr viel mehr Anstoß an mir nehmen, aber das ist dann wieder so eine Sache, wo ich als relativ privilegierter Mensch sehr viel eher diese Leute von mir abhalten kann als vielleicht andere, die sehr viel eher darauf achten müssen, keinen Anstoß zu geben.
    "Knoten eines Netzwerks"
    Köhler: Ist Sharing oder diese Art der Post-Privacy als nicht nur Preisgabe und Verlust, sondern auch ein Identitätsangebot oder auch ein Solidaritätsangebot? Man kann ja neue Gemeinschaften schließen, man kann, in England ist das zum Beispiel ganz üblich, Minoritätenbewusstsein kann normalisiert werden, man kann Wahlfreiheit vergrößern - sehen Sie das in dieser Richtung?
    Heller: Ja, ich glaube, man wird dadurch sehr viel mehr zu einer Art vernetztem Wesen, und man begreift sich sehr viel mehr als Knoten eines Netzwerks und weniger als eine in sich isolierte Hülle um irgendein Individualgeheimnis, das einen jetzt total vom Rest der Welt absetzt.
    Köhler: Lassen Sie mich mal altmodisch gegen Ende kulturkritisch einwenden: Das Ende der Privatsphäre, so wie sie es skizzieren, begünstigt so eine Art Dauerevaluierung, also du bist nur, was deine Follower zulassen. Spekulieren Sie auf die Rückmeldung der anderen oder brauchen Sie die?
    Heller: Also persönlich schaue ich sehr wenig darauf, wer überhaupt meine Webseite liest und was ich so tue. Ich hab auch nicht den Eindruck, dass das sehr viel getan wird. Für mich persönlich ist ja mehr der Ansatz, wenn ich schon Daten erzeuge, dann sehe ich keinen guten Grund, sie geheim zu halten. Aber ob die irgendjemanden interessieren oder irgendjemandem nutzen, das, denke ich, müssen die anderen Leute entscheiden. Was jetzt diese konstante Evaluierung betrifft, ich glaube, wir leben gesellschaftlich sowieso unter konstanter Evaluierung, also sprich, alles, was wir tun, wird etwa in bestimmtem Maße in Wert gemessen, unter den Bedingungen unseres Wirtschaftssystems, und da ist das eigentlich nur etwas, was vielleicht diese sowieso vorgegebene Struktur hier und da noch etwas verstärken kann.
    Köhler: Schon mal bereut, den Schritt in so eine große Öffentlichkeit?
    Heller: Eigentlich nicht. Also es gibt so Reibungspunkte ...
    Köhler: Anfeindungen vielleicht oder so was?
    Heller: Also nichts, was mich jetzt allzu sehr getroffen hätte. Ich merke, manchmal machen sich Leute ein bisschen lustig über so Aspekte meines Lebens - eigentlich weniger der Umstand, dass ich mich so publiziere, sondern dann, dass dadurch etwa rauskommt, wie ungesund ich mich ernähre oder dergleichen.
    Köhler: Sie kriegen auch schon mal Aufforderungen: Lass das, kauf dir lieber mal ne Buttermilch!
    Heller: Genau. Aber das trifft alles nicht so richtig so auf meine sensiblen Stellen. Vielleicht kann man auch dann behaupten, dass ich eigentlich nur Stellen publiziere, die nicht so sensibel sind, aber das ist dann halt so ein Ausprobieren. Man schaut, über welche Bereiche man öffentlich mehr sagen kann, als man das früher tat, und tastet sich dann so ein bisschen voran.
    "Ich gewähre etwas mehr Kontrollverlust in Bereichen, die ich eigentlich noch kontrollieren könnte"
    Köhler: Sie kontrollieren also den Kontrollverlust?
    Heller: Ich gewähre etwas mehr Kontrollverlust in Bereichen, die ich eigentlich noch kontrollieren könnte, und stückchenweise mehr und mehr. Letztlich kann ich das nicht vollständig kontrollieren – irgendjemand könnte ohne mein eigenes Zutun Protokolle über mich anfertigen und die ins Netz stellen. Ich kann nur ein bisschen das lenken, was davon wahrgenommen wird, weil ich selbst hier und da etwas mehr hinzutun kann oder weglassen kann. Aber das ist so eine Art Probefreiraum, den ich halt jetzt noch habe. In einer Welt, in der wir immer mehr und mehr aufgezeichnet werden, auch ohne unser Zutun, wird halt dieser Probefreiraum immer kleiner, und ich glaube, solange man noch ihn hat und so ein bisschen experimentieren kann, sollte man das tun, sprich, solange ich noch selber gucken kann, in welchem Bereich entblöße ich mich zuerst und in welchem vielleicht erst im zweiten Schritt.
    Köhler: Sagt Christian Heller in unserer Serie "Leben in der digitalisierten Welt", und wer nachgucken will, ein PlomWiki und ein Buch hat er auch geschrieben, "Post-Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.