Donnerstag, 28. März 2024

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Reihe: Woher kommt die Energie?
"Wir sind eine Gesellschaft der Konkurrenz"

Nach Ansicht des Philosophen Gunter Gebauer ist das mimetische Begehren die Grundenergie einer modernen Konsumgesellschaft. Das zeige sich nicht nur bei Umgangsobjekten, sondern auch bei Gefühlen, akademischen Titeln oder sportlichen Erfolgen, sagte er im Deutschlandfunk.

Gunter Gebauer im Gespräch mit Anja Reinhardt | 22.08.2017
    Der Sportsoziologe Gunter Gebauer
    Der Philosoph und Sportsoziologe Gunter Gebauer meint: "Die Strukturen, die wir jetzt haben, die werden nicht ewig weiter bestehen." (imago sportfotodienst)
    Anja Reinhardt: Wir fragen diesen Sommer in "Kultur heute" nach, woher die Energie kommt oder wie das Thema Energie in der Kultur verhandelt wird - bei Musikern, Schriftstellern, Filmemachern oder Philosophen. Einer dieser Philosophen ist Gunter Gebauer, der auch als Deutschlands Fußball-Philosoph bekannt ist – was insofern ein wenig in die Irre führt, als dass Fußball für ihn ein Phänomen ist, an dem sich grundsätzliche philosophische Fragen ablesen lassen. Zum Beispiel die der Mimesis, die schon Platon und Aristoteles beschäftigt haben. Mimesis, das ist das Prinzip der Nachahmung. Das kann man bei Geschwistern gut ablesen, denn wenn ein Kind ein Schokoeis möchte, dann wollen die Geschwister auch genau das. Mimetisches Begehren nennt Gunter Gebauer das. Eine Energie, die von einem auf andere und vielleicht sogar auf ganz viele überspringt. Ich habe ihn vor der Sendung gefragt, ob das vielleicht auch die Grundenergie unserer modernen Konsumgesellschaft ist?
    Gunter Gebauer: Ja, ich glaube, denn das mimetische Begehren ist eigentlich das Wünschen und Wollen und Trachten, mitzuhalten mit den anderen. Und nicht nur das, das gleiche zu haben wie die anderen, sondern vielleicht sogar noch ein bisschen besser, also auch ein iPhone zu haben, oder vielleicht zu den ersten Besitzern eines iPhones, des neuen Modells zu gehören und dann Nachts schon Schlange stehen, um sich das zu besorgen beispielsweise. Wir sind ja eine Gesellschaft als Konsumgesellschaft, als Werbungsgesellschaft, eine Gesellschaft der Konkurrenz, die unendliche Angebote an Begehrensobjekten macht. Das beginnt natürlich mit Umgangsobjekten. Das geht weiter mit Gefühlen, die man auch haben möchte. Das geht dann noch weiter mit Titeln, akademische Titel natürlich, aber dann Sporttitel. Man will deutscher Meister werden, dann Pokalsieger, dann Europacup-Sieger, dann Weltcup-Sieger.
    "In der Liebe geht es ja oft auch tatsächlich um Konkurrenz"
    Reinhardt: Lassen Sie uns mal kurz bei den Gefühlen bleiben, bevor wir zum Fußball kommen und vielleicht auch noch zur Politik. Sie haben gerade gesagt, dass man das daran ablesen kann. Das Gefühl, das jeder natürlich haben möchte, ist die Liebe. Die Liebe muss immer einzigartig sein. Inwiefern lässt sich das mimetische Begehren da ablesen? Werden wir da sogar zu Konkurrenten, wenn es um die Liebe geht?
    Gebauer: In der Liebe geht es ja oft auch tatsächlich um Konkurrenz. Wie oft hört man, dass jemand jetzt aus männlicher Sicht seine Frau erobert hat, gegen die ganze Konkurrenz, die da sonst noch war, und je mehr Konkurrenten da waren und je größer die Eroberungslust dadurch war, desto wertvoller wird auch das Objekt des Begehrens, jetzt mal ganz einfach gesagt. Das müssen wir jetzt nicht an bunten Blättern festmachen, sondern an der großen Liebesliteratur Frankreichs im 19. Jahrhundert bis tief in das 20. Jahrhundert hinein. Einer bekommt sie und stellt dann fest, ja so besonders ist diese Frau eigentlich auch nicht, wenn die Konkurrenten nicht mehr da sind. Dann ist der Glanz weg, die Freude, dass man sie anderen weggenommen hat, dass man sie jetzt nur noch für sich hat. Das geht schon los mit Balzac und das geht weiter mit Flaubert, Stendahl. Proust hat eine der großartigsten Geschichten mit der Liebe von Swann und Odette geschrieben, die in dem Moment, wo sie sich endlich haben, dazu führt, dass sie beide sagen, wenn ich daran denke, dass ich zehn Jahre meines Lebens mich abgemüht habe, um so einen Typen zu kriegen oder so eine Frau zu kriegen.
    Reinhardt: Die israelische Soziologin Eva Illouz hat ein schönes Buch geschrieben. Das heißt "Der Konsum der Romantik". Die Romantik, von der Sie ja eben auch als Literaturepoche gesprochen haben, die Vorlage für unsere moderne Liebesvorstellung ist. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe heißt das: Je mehr Energie man aufwendet, desto wertvoller ist diese Liebe.
    Gebauer: Ja, genau. Und man wendet mehr Energie auf, wenn die Konkurrenz größer ist. Man ahnt, dass man sich gegen Gott weiß wie viele Konkurrenten durchsetzen muss. Dann wird die Energie größer, die wird mobilisiert, und dann wird auch das Objekt des Begehrens wertvoller.
    Nun muss man sagen, die Romantik, wenn wir die Frühromantik nehmen um 1800, hat das Ganze ohne solche Dreiecksgeschichten oder Vielecksgeschichten geschrieben. Aber dann kam ab Balzac die Literatur, die René Girard, der das Ganze erfunden hat oder zuerst ganz aufmerksam geworden ist darauf, antimimetische Literatur nennt. Und dann kamen Schriftsteller, die im Grunde genommen dieses Struktur des Begehrens um die Frau des 19. Jahrhunderts – das sind ja ganz spezifische Ökonomien der Gefühle in jener Zeit – analysiert haben und festgestellt haben, überall wo eine heftige Liebe entbrennt, ist irgendwo dahinter auch ein Konkurrent, ein Vermittler, ein literarisches Vorbild, oder auch nur eine wunderbare Geschichte, die man toppen möchte.
    "Wir haben wieder diese Rhetorik der Überbietung"
    Reinhardt: Ich würde gerne noch mal auf die Politik zu sprechen kommen, weil es da ja auch so eine im Prinzip mimetische Energie oder ein mimetisches Begehren gibt, zum Beispiel auch darüber – und das erleben wir ja gerade -, wer der Größte und der Beste ist, das größte Militär hat, das schönste Land und so weiter.
    Gebauer: … am lautesten.
    Reinhardt: Es ist durchaus auch eine politische Energie. Schauen wir doch mal nach Nordkorea und in die USA. Was passiert denn da gerade?
    Gebauer: Ja, das ist dieses Wettrüsten. Jetzt haben wir aber wieder diese Rhetorik der Überbietung: Wenn Du mich bedrohst, dann bedrohe ich Dein Guam, und wenn Du zurückschlägst, dann schieße ich die nächste Rakete auf Seoul und die übernächste auf Tokio und so weiter. Das Schlimme ist, das ist möglicherweise nicht nur Rhetorik und nicht nur irgendein dummes Begehren, sondern es ist möglicherweise etwas, was in der Konkurrenzstruktur von Menschen angelegt ist – jetzt nicht unbedingt als menschliches Erbe aus Frühzeiten, sondern etwas, was gewachsen ist mit unseren modernen Möglichkeiten, Begehren zu haben. Wenn jemand den roten Knopf hat, auf den er drücken kann, kommt er sich vor als der stärkste Mensch der Welt, der mächtigste, der einflussreichste, und die Lust, diesen roten Knopf vielleicht eines Tages zu betätigen, oder auch nur ständig damit zu renommieren, dass er ja so einen Knopf zur Verfügung hat, die ist offenbar übermächtig groß.
    Reinhardt: Nun gelten Sie – und das habe ich ja vorhin schon gesagt – als Deutschlands Fußball-Philosoph, und da kann man sicherlich auch von mimetischem Begehren sprechen. Jeder will den Pokal, jeder will die Meisterschaft, die Fans ahmen ihre Idole nach, die Spieler. Aber man kann trotzdem letztendlich sagen, dass der Fußball, so wie er heute ist, dann doch nicht mehr so viel zu tun hat wie, sagen wir mal, mit dem Fußball der 70er- oder noch früher, 60er-, 50er-Jahre?
    Gebauer: Zum einen ist er viel besser geworden als früher, viel schneller, viel athletischer, muss man einfach zugeben. Auf der anderen Seite hat er auch viel mehr Begehrensmöglichkeiten, Spieler des Jahres zu werden, Spieler des Planets zu werden, Spieler der Weltmeisterschaft zu werden, dann die höchste Transfersumme aller Zeiten für sich einwerben zu können, wie jetzt mit Neymar 220 Millionen. Das bedeutet, er ist der wertvollste, der wichtigste Spieler. Der braucht sich nur einmal zu verletzen, dann ist die ganze Summe perdu. Das ist ja ganz witzig, was da passiert. Aber Ronaldo, der bis dahin glaubte, er sei der teuerste Spieler, oder Bale, der vielleicht tatsächlich der teuerste Spieler vorher war, sehen jetzt aus wie Waisenknaben, weil die haben nur 110 Millionen oder 100 Millionen gekostet. Also wird man jetzt versuchen, möglicherweise die Summe von Neymar noch mal zu toppen, um der wertvollste und großartigste Spieler zu sein.
    Fußball: Mehrere mimetische Begehren, die zusammenkommen
    Reinhardt: Aber hat Fußball denn heute noch diese Energie, die, vielleicht jetzt auch ein bisschen nostalgisch betrachtet, möglicherweise auch sinnstiftend war?
    Gebauer: Es war nicht so sinnstiftend. Das ist im Nachhinein hineingeheimnist worden. Schauen Sie, die Repräsentation der Bundesrepublik wird teilweise in der Welt mitbestimmt durch die Rolle, die der Fußball, der deutsche Fußball in der Welt spielt. Und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft tritt auf, als sei sie eine Botschaftstruppe im Auftrag der Bundesregierung. Und die Kanzlerin kommt in die Kabine der Jungs, um sie zu beglückwünschen, und der Bundespräsident kommt auch noch dazu, damit er mit auf dem gemeinsamen Bild ist, nach dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft. Hier haben wir sozusagen mehrere mimetische Begehren, die zusammenkommen: Die Mannschaft hat gewonnen, ist die beste der Welt, die Kanzlerin kommt hinzu, ist die Kanzlerin, die jetzt die beste Truppe der Welt im Fußball ihr eigen nennen kann und sich mit ihr vereinen kann im Glückwünschen und in der Freude, und der Präsident kommt dazu, um auch hinter der Kanzlerin nicht zurückzustehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.