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Reiner Leists Langzeitfotoprojekt "Window" in Ulm
2000 Mal 8th Avenue

Der Fotokünstler Reiner Leist hat die Langzeitbeobachtung zu seiner Kunstform gemacht. So macht er seit 20 Jahren jeden Tag ein Foto aus demselben Fenster seines New Yorker Apartments. "Window" hat er das Projekt genannt. Die Bilder des Projektes sind jetzt in Ulm zu sehen.

Von Christian Gampert | 29.12.2015
    Die Methode der systematischen Beobachtung ist auch in der deutschen Fotografiegeschichte mit zahlreichen Protagonisten vertreten - man denke nur an August Sander oder an Bernd und Hilla Becher. Das, was Reiner Leist tut, ist aber noch einmal etwas anderes. Seine Serien sind oftmals Langzeit-Recherchen: Er beobachtet Menschen, lässt sie über sich sprechen, kombiniert Text und Bild - und sucht diese Leute dann 20 Jahre später wieder auf, um zu erfahren, was in der Zwischenzeit geschehen ist... Manche dieser Geschichten sind ermutigend, andere eher nicht. Wenn so etwas dann auch noch in Südafrika stattfindet, in den Jahren des Neuanfangs nach dem Apartheid-Regime, dann ist das natürlich ein auch politisch wichtiges Projekt. Auch Leists New York-Fotos, die ganz simpel jeden Tag auf's Neue den Blick aus seinem Appartement am Madison Square Garden inszenieren, haben durch die rasante bauliche Veränderung der Stadt, durch die Zunahme an elektronischer Werbung im Stadtbild etwas Dokumentarisches, aber auch etwas, das darüber hinausgeht.
    Jeden Tag ein Bild
    Da ist nämlich, einerseits, diese offene Wunde: Die Doppeltürme des World Trade Center sind irgendwann nicht mehr da. Andererseits sind diese Bilder ein Tagebuch: sie zeigen den ganz persönlichen Blick von Leist auf sein New York, den Smog, die Atmosphäre der Tages- und der Jahreszeiten, die wechselnden Lichtstimmungen, das Wetter, den Verkehr. Und doch kommt Leist nicht aus der Düsseldorfer Kaderschmiede der Bechers oder von einer Fotoakademie – er hat in München Kunst studiert, aquarelliert, gezeichnet, und auf die Frage, was ihn denn in diese Langzeitprojekte treibe, gibt er eine überraschende Antwort.
    "Ich glaube, das hat mit meiner Biografie zu tun. Dass ich mit vier Urgroßeltern aufgewachsen bin. Ich glaube, das hat unbewusst bei mir ein Denken in längeren Zeiträumen ausgelöst."
    Leist kommt aus dem bayerischen Ingolstadt, und nach dem Studium erhielt er 1988, mit 24 Jahren, ein Stipendium für Kapstadt. Das Miterleben des Umbruchs in Südafrika sei die prägende Erfahrung seines Lebens, sagt er. In Südafrika kaufte er - in einem Trödelladen - auch die historische Großbildkamera aus dem 19.Jahrhundert, mit der er seine New-York-Bilder macht. Diese Fotos sind jetzt im Ulmer Stadthaus in einer noch nie da gewesenen Ausführlichkeit zu sehen. Natürlich nicht alle, Leist begann das Projekt im März 1995! Jeden Tag ein Bild, wenn Leist auf Reisen ist, kommt ein schwarzer Karton an die Stelle des Fotos.
    Die Stadt ist der Held dieser Ausstellung
    Die Ulmer Schau zeigt uns beispielhaft auf riesigen Fotowänden die Entwicklung einer Stadt. So wie Uwe Johnson in seinen "Jahrestagen" manisch die New York Times las oder Veränderungen seines Wohnhauses notierte, so spielt Leist mit den Schatten von Werbe-Leuchtbuchstaben am "New Yorker"-Hotel oder mit den technischen Fehlern versehentlich überbelichteter Negative. Er zeigt auf spiegelnden Fensterscheiben Privatleben und draußen die Schluchten der Stadt. Sehr düstere, fast todessüchtige urbane Stimmungen wechseln mit klaren und optimistischen Atmosphären.
    Manhattan wirkt auf diesen Bildern manchmal wie ein altes Gemäuer, dann wieder wie eine hoch technisierte städtische Struktur, die New York ja tatsächlich auch ist; ein System, das sich ständig wandelt. Es kostet Mühe, sich durch die Bilder hindurchzuarbeiten. Was es heißt, in New York zu leben - das will schon die querschnittartige Anordnung der Bilder zeigen: Man sieht Serien vom 4., 14., 30. und (sofern existent) 31. Tag eines jeden Monats von 1995 bis 2015.
    Die Stadt ist der Held dieser Ausstellung - und ein bisschen auch Reiner Leist, der diese Stadt schon so lange begleitet. Mittlerweile ist er auch wieder öfter in Deutschland, er hat auch hier Projekte. Das Pendeln hilft.
    "Für mich ist das eine Form des Scharfstellens. Wenn man zu nah an dem dran ist, was man anschaut, dann sieht man nichts, und wenn man zu weit weg ist, sieht man auch nichts. Und dieses Hin- und Hergehen ist für mich dieses Scharfstellen. Abstand nehmen erlaubt einem dann vielleicht auch einen klareren Blick."