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Reinhold Vetter
"Polens diensteifriger General"

Wojciech Jaruzelski gehört zu den widersprüchlichsten Figuren der polnischen Zeitgeschichte und erregt auch nach seinem Tod 2014 noch die Gemüter. Der Journalist Reinhold Vetter greift in seiner Biografie die Kontroversen auf und verfolgt dessen Leben und Karriere bis ins Detail.

Von Melanie Longerich | 16.07.2018
    "Bürgerinnen und Bürger der Volksrepublik Polen! Ich wende mich heute an euch als Soldat und Chef der polnischen Regierung. Ich wende mich an euch in einer Sache von größter Bedeutung. Unser Vaterland befindet sich am Rande des Abgrunds …."

    13. Dezember 1981. Ein Sonntag. Ganz Polen liegt unter einer dicken Decke aus Schnee. Um sechs Uhr morgens tritt der polnische Ministerpräsident, Parteichef und General Wojciech Jaruzelski vor die Kameras, um das Kriegsrecht zu verkünden.

    Seit der Nacht kontrollieren 70.000 Soldaten und 30.000 Polizisten die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte. Tausende Anhänger der Gewerkschaft Solidarność sind festgenommen. Die Streik- und Versammlungsfreiheit ist aufgehoben, eine Polizeistunde eingeführt. Seit den großen Streiks im August 1980 hatten sich zehn Millionen Polen der Bewegung Solidarność angeschlossen. Das Militär sollte die alte Ordnung wieder herstellen.
    In der polnischen Geschichte gibt es viele dramatische Momente. Doch die Verhängung des Kriegsrechts hat sich in das kollektive Gedächtnis des Landes eingebrannt. Und obwohl Jaruzelski zeitlebens beteuerte, er habe es nur ausgerufen, um den Einmarsch von Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten zu verhindern, gibt es bis heute dafür keine belastbaren Beweise.
    "Im Westen, auch in Deutschland, ist es ja so, dass man Jaruzelski ja fast nur mit dem Kriegsrecht von Dezember 1981 in Verbindung bringt", sagt der langjährige Warschau-Korrespondent Reinhold Vetter über Jaruzelski. "Aber in diesem Lebenslauf steckt viel mehr. Anhand seiner Biographie lässt sich vieles erläutern."
    Widersprüchlicher Lebenslauf
    Vetter hat auf rund 400 Seiten eine beachtliche Recherche- und Analyseleistung vollbracht: Er hat Archivmaterial ausgewertet, Veröffentlichungen polnischer Historiker zum Thema, aber auch Memoiren und Gespräche mit Weggefährten Jaruzelskis.
    Seine Erkenntnisse setzt Vetter in Bezug zum zeithistorischen Hintergrund. Vetter schreibt: "Wojciech Jaruzelski wuchs in einer Familie auf, deren Bewusstsein stark durch Prinzipien wie Unabhängigkeit von Staat und Nation, aufopferungsvoller Dienst am Vaterland und patriotisch-katholisches Engagement im gesellschaftlichen Alltag geprägt war."
    1923 wurde Jaruzelski in Kurow bei Lublin geboren. Also keine fünf Jahre nachdem Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte. Seine Familie entstammte dem Kleinadel. Im Herbst 1939 floh die Familie nach Litauen – und wurde dann ins Altai Gebirge deportiert, nachdem die Rote Armee ins Baltikum eingerückt war. Im sibirischen Lager arbeitete er als Holzfäller. Der gleißende Schnee verbrannte ihm die Augen – und so trug er bis zu seinem Tod eine dunkle Brille. Die Gründe, warum ausgerechnet dieser junge Adelige mit diesen Erfahrungen zur festen Stütze des Kommunismus in Polen wurde, sind vielfältig:
    "Als sein Vater krank wurde und schließlich starb, hat er viel gebetet, und hat sich irgendwann gedacht: ‚Ich bete und ich bete und ich bete, aber vielleicht gibt es diesen Gott nicht, mein Vater ist gestorben.‘", erzählt Vetter. "Mit dieser Auffassung kehrte er nach Polen zurück."
    1943 hatte sich sich Jaruzelski in der Sowjetunion der Berling-Armee angeschlossen, einem polnischen Verband, der militärisch wie auch ideologisch strikt der Politik Stalins untergeordnet war und an der Seite der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte.
    "Und so rang sich Jaruzelski zur Ideologie der neuen Macht durch", so Vetter. "Aber in den folgenden Jahren war Jaruzelski nie ein kommunistischer Ideologe oder Propagandist. Man lese zum Beispiel seine Reden, die, was den Marxismus-Leninismus anging, eher langweilig waren, formelhaft waren, er empfand auch die Parteimitgliedschaft als Dienst für sein Land."
    Gespür für die Zeichen der Zeit
    Der Entschluss, beim Militär zu bleiben, war alternativlos: Jaruzelski hatte keine Ausbildung, kein Studium, Mutter und Schwester waren noch in Sibirien. Mit nur 33 Jahren wurde er zum Brigadegeneral ernannt, als einer der jüngsten, wie Vetter schreibt:
    "Die militärische Karriere von Wojciech Jaruzelski hat in den finsteren Jahren des Stalinismus keinerlei Schaden genommen. Dabei halfen ihm seine Generaltugenden wie Fleiß, Eloquenz und Anpassungsfähigkeit. Scharfe ideologische Kontroversen oder gar Aufmüpfigkeit waren nicht seine Sache."
    Anpassungsfähigkeit – oder Elastizität wie es Vetter auch nennt, ist eine Charaktereigenschaft, die sich durch Jaruzelskis Karriere zieht. Das politische Tauwetter überstand er unbeschadet, 1964 wurde er ins Zentralkomitee berufen, vier Jahre später von Parteichef Władysław Gomułka zum Verteidigungsminister ernannt.
    Drei politische Schlüsselereignisse arbeitet Reinhold Vetter in Jaruzelskis Biografie heraus.
    Zwei davon passen in das Bild des "diensteifrigen Generals", wie Vetter ihn betitelt. Das ist zum einen seine Rolle bei den Märzunruhen 1968, als die kommunistische Parteiführung eine antisemitische Hetzkampagne führte. Als Spitze des Generalstabs war Jaruzelski daran beteiligt, dass auch beim Militär jüdischstämmige Offiziere gehen mussten – übrigens auch noch in den Folgejahren, als er schon Verteidigungsminister war.
    Zum anderen ist es seine Rolle bei den Arbeiterprotesten zwei Jahre später. Wladyslaw Gomulka, der als Parteichef schon angezählt war, befahl im kleinen Kreis auf protestierende Arbeiter schießen zu lassen – Jaruzelski schwieg. Armee und Miliz schlugen die Proteste blutig nieder.
    "Man muss sich mit dem Mann beschäftigen"
    Beim dritten Schlüsselereignis, das Vetter in den Blick nimmt – hat Wojciech Jaruzelski aber überraschend Weitsicht bewiesen. Ende der 80er Jahre – nicht zuletzt unter dem Einfluss von Gorbatschow – verschloss er sich auch nicht den Zeichen der Zeit, dass die Kommunisten die Macht teilen mussten, um politisch zu überleben.
    Und so war es Jaruzelski, der aktiv im Hintergrund den friedlichen Übergang hin zu Demokratie und Marktwirtschaft mitgestaltete – und sich für Gespräche mit der Solidarność einsetzte. Das Resultat ist bekannt: Im Frühjahr 1989 wurde am Runden Tisch der Anfang vom Ende des Kommunismus besiegelt.
    Nach den ersten halbfreien Wahlen am 4. Juni war Jaruzelski noch einmal wenige Monate lang Staatspräsident in der Regierung des Bürgerrechtlers Tadeusz Mazowiecki.
    Eine Aufgabe, der er sich überraschend loyal stellte, wie Vetter sagt: "Wenn er irgendetwas hörte, dass es irgendwelche komischen Umtriebe im Militär oder Geheimdienst gab, dann hat er sich sofort an Mazowiecki gewandt und ihn darüber informiert. Und das muss man ihm positiv anrechnen."
    Eine Auffassung, die die amtierende nationalkonservative PiS-Regierung in Polen nicht teilt. Zu ihren Grundüberzeugungen gehört, dass der Runde Tisch ein Fehler war. Immer wieder versucht sie, den 2014 verstorbenen General und andere kommunistische Offiziere postum zu einfachen Soldaten zu degradieren.
    Reinhold Vetter: "Das ist Kinderkram. Man muss sich mit dem Mann beschäftigen, man kann vieles in seinem Leben kritisieren, man kann auch was Positives rausstellen, aber zu meinen, dass man diese Person und diese Geschichte bewältigt, indem man ihm an der Uniform irgendetwas abschneidet oder die Rente seiner Frau kürzt. Das ist albern."
    Reinhold Vetter hat sich in der Tat mit Jaruzelski beschäftigt. Bis in die Verästelungen von Leben und Karriere hinein, seziert er späte Rechtfertigungen des Generals ebenso wie die Kontroversen um ihn. Eine gelungene Biografie, die Kennern wie Interessierten gleichermaßen Neues bietet.
    Reinhold Vetter: "Polens diensteifriger General. Späte Einsichten des Kommunisten Wojciech Jaruzelski"
    Berliner Wissenschafts-Verlag, 410 Seiten, 37 Euro.