Samstag, 20. April 2024

Archiv


Reise in den Zwischenraum

Wer die Katakomben von Paris liebt, wird als Katahphile bezeichnet. Das Wandern im Untergrund ist zwar streng verboten, aber genau das scheint auch den Reiz eines unterirdischen Rundgangs unter der französischen Hauptstadt auszumachen.

Von Harald Brandt | 15.01.2012
    Wo genau sich der Zugang befindet, ist nur den Eingeweihten bekannt. Wir laufen durch einen Tunnel der stillgelegten Ringbahn von Paris. Seit 20 Jahren fahren hier keine Züge mehr.

    In der Kluft der Kataphilen - Blaumann, Gummistiefel und Stirnlampe - sieht Gilles Thomas wie ein Kanalarbeiter aus. Aber die Abwasserkanäle unter der Hauptstadt sind nicht unser Ziel. Wir wollen noch tiefer hinein, in das 300 Kilometer lange Netz von Galerien und Stollen, die seit dem Mittelalter in den Kalkstein von Paris gegraben worden sind.

    Im zivilen Leben ist Gilles Thomas Beamter in der Stadtverwaltung, in seiner Freizeit wandert er durch den Untergrund.

    Das ist zwar streng verboten, 180 Euro Strafe zahlt ein Kataphile, ein "Liebhaber der Katakomben", der sich von der Sonderbrigade der Polizei in den Steinbrüchen erwischen lässt, aber das erhöht nur den Reiz.

    "Hier geht's rein,”"

    Meint Gilles mit einem ironischen Lächeln. Er weiß, dass jeder Neuling davor zurückschreckt, kopfüber in das enge Loch neben dem Gleisbett zu kriechen. Auch der französische Anthropologe Jean-Didier Urbain, der sich beruflich mit dem Untergrund beschäftigt, ist durch diese "chatière", dieses Katzenloch gekrochen, das von den Kataphilen in den Boden des Tunnels gegraben wurde.

    "Das ist wie eine Schleuse ... Man ist plötzlich in einem Niemandsland, einem Ort ohne Gesetze, wo man ganz auf sich selbst gestellt ist. Man verstößt gegen die Regeln einer Art Inquisition, die im Namen des Rechts und des Gesetzes den Zugang untersagt.
    In diesem Zwischenraum befindet man sich in einem sozialen und juristischen Schwebezustand, wo man nur sich selbst hat. Solche Orte sind in unserer modernen Welt selten geworden!"

    Je niedriger der Gang, desto schneller läuft mein Führer."Dann haben's wir schnell hinter uns,” ruft er mir lachend zu, "komm ran!”. Ich beeile mich aufzuschließen, die Vorstellung Gilles Thomas im Labyrinth der Gänge zu verlieren, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Alleine würde ich hier nie wieder herausfinden. Trotz der Namensschilder an den Kreuzungen, die den Straßen an der Oberfläche entsprechen. 25 Meter über uns.

    Aber die Magie der unterirdischen Welt hat mich schon gepackt. Jeder Tunnel ist anders, einige sind direkt in den Felsen gehauen, andere akkurat ausgemauert. An manchen Stellen stehen die Gänge kniehoch unter Wasser und erinnern daran, dass wir uns fast auf der Höhe des Grundwassers befinden.

    ""Der Weg, den wir bis hierher zurückgelegt haben, entspricht in etwa dem Straßennetz darüber. Einige Straßen haben heute allerdings andere Namen. Die Avenue d'Orléans nennt sich heute Avenue du Général Leclerc, aber jeder Pariser kennt aus verschiedenen Gründen noch den alten Namen. Das liegt daran, dass es die Porte d'Orléans, also das alte Stadttor noch gibt und auch eine U-Bahn-Station mit demselben Namen."

    Der Untergrund ist das Gedächtnis der Stadt des 18. Jahrhunderts, besonders in topografischer Hinsicht. Aus historischer Sicht ist der Untergrund die Erinnerung an den Ursprung der Steine, mit denen Notre-Dame und die Brücken von Paris gebaut wurden.

    Die Tunnelsysteme unter Paris sind nicht alle miteinander verbunden, die beiden größten Teillabyrinthe befinden sich auf dem linken Seine-Ufer, unter dem 5. dem 6. und vor allem dem 14. Arrondissement.

    Zuerst wurde der Kalkstein oberirdisch abgebaut, aber ab dem 12. Jahrhundert begannen sich die Steinbrecher systematisch ins Erdinnere vorzuarbeiten. Zur Belüftung der unterirdischen Stollen wurden senkrechte Schächte angelegt, die auch dazu dienten, die Steinblöcke an die Oberfläche zu schaffen. Große hölzerne Räder über den Extraktionsschächten, in denen Arbeiter wie in einem überdimensionierten Hamsterrad liefen, erlaubten das Hochziehen tonnenschwerer Kalksteinquader.

    Die Arbeiter folgten dem Verlauf der Steinadern und trieben das Tunnelnetz immer weiter unter die sich ausdehnende französische Hauptstadt. Sie arbeiteten ohne Karte und die Zugangsstollen zu nicht mehr genutzten Steinbrüchen gerieten nach und nach in Vergessenheit.

    Gilles Thomas biegt um die Ecke und wir stehen in einem Saal, in dem zwei Liebhaber der Katakomben Bänke, einen Tisch und einen schmiedeeisernen Leuchter installiert haben. An den Wänden hängen Dämonenkopfe, an der hinteren Wand steht das Gipsmodell einer mittelalterlichen Burg.

    Gilles zündet mehrere Kerzenstummel an, dann schaltet er seine Stirnlampe aus.

    "Le château - das Schloß” heißt dieser Ort im Jargon der Kataphilen.

    Ich frage meinen Weggefährten, wer die Menschen sind, die diesen Saal in einen heimlichen Treffpunkt 25 Meter unter Paris verwandelt haben?
    Wie auf Stichwort steht plötzlich ein Besucher im Eingang.
    Lange schwarze Haare, Schnauzbart, über dem nackten Oberkörper trägt er eine ärmellose Lederweste.

    Der unerwartete Gast aus der Finsternis stellt sich als FLNC vor - wie alle echten Kataphilen ist er nur unter seinem Pseudonym bekannt. Mit einer Handbewegung lädt Gilles ihn ein, sich zu uns zu setzen.

    "Du kommst gerade richtig," meint er, "als ob wir uns abgesprochen hätten! Man hat mir gerade die Frage gestellt, wer die Kataphilen sind.”"

    Nein, das sei nicht abgesprochen gewesen, meint der muskulöse Mann und zündet sich eine Zigarette an, er habe Stimmen gehört und sei ihnen gefolgt. Die Nacht hat er unter Tage verbracht. Und wunderbar geschlafen in seiner Hängematte in der "Schmiede”, einem kleinen Saal unter der Rue Saint Jacques. Seine Freundin Cecile wollte noch weiter nach Norden, bis zum deutschen Bunker, aber das war ihm zu weit.

    Gilles fragt ihn, ob er ein Anhänger der korsischen Unabhängigkeitsbewegung sei. FLNC lacht und meint, dass er zwar Korse sei und man ihm deshalb auch dieses Pseudonym verpasst habe, aber mit den Freiheitskämpfern der "Front de Liberation Nationale Corse" hat er nichts zu tun.

    Wir verabschieden uns von FLNC, blasen die Kerzen aus und schalten unsere Stirnlampen wieder an. 20 Minuten später gibt mir Gilles ein Zeichen stehen zu bleiben. Wir sind unter dem Boulevard von Montparnasse.

    ""Was wir da hören, ist die S-Bahn RER, die in die Station einfährt. Die S-Bahn ist lauter als die U-Bahn, weil sie auf Eisenrädern läuft, während die U-Bahn, unter der wir vorhin waren, auf luftgefüllten Gummireifen fährt. Da spürt man nur die Vibration, aber man hört kein Reiben von Eisen gegen Stahl wie bei der S-Bahn. Das sind die einzigen Geräusche, die einzigen Nebengeräusche, obwohl sich über uns eine quirlige Großstadt befindet. Es ist immerhin die Hauptstadt Frankreichs!

    Wenn man nicht gerade unter einer U-Bahn Linie ist und wenn man nicht redet, dann hört man nichts mehr! Vollkommene Stille. Es ist unvorstellbar, diese Art der Stille an der Oberfläche zu finden, keiner würde sie in Paris suchen, aber wir sind trotzdem immer noch in Paris!"

    Gilles Thomas zeigt auf den durchgehenden schwarzen Strich an der Decke. Dieser Teil der unterirdischen Galerien gehörte früher zum Besucherparcours der Katakomben unter dem Platz Denfert-Rochereau, wo sich auch heute noch der einzige offizielle Zugang zur Unterwelt befindet.

    Im frühen 19. Jahrhundert liefen die Besucher mit offenem Licht durch die Gänge des Beinhauses. Der schwarze Strich war der Ariadnefaden, den man nicht verlieren durfte, wenn man aus dem Labyrinth herausfinden wollte. Heute sind alle Verbindungen zwischen dem Museum der Katakomben und den Steinbrüchen hermetisch abgeriegelt. Neben dem Eiffelturm sind die Katakomben das meistbesuchte Monument von Paris.
    An dieser Stelle schneidet meine verbotene Wanderung in den unterirdischen Steinbrüchen den Parcours in den Katakomben, den ich zwei Tage zuvor in Begleitung des Historikers Thomas Dufresne gegangen war. Ganz offiziell, nachdem wir am Eingang des Museums zwei Tickets gelöst hatten.

    "Hier sind wir auf dem Niveau der Abwasserkanäle jetzt auf der Ebene, wo sich die U-Bahn befindet, und wir gehen weiter nach unten, unter die Ebene der Pariser U-Bahn im Schnitt befinden sich die Katakomben in einer Tiefe von 20 - 25 Meter wir lassen das Abwasser-und das U-Bahnnetz also weit hinter uns und steigen tief in den eigentlichen Pariser Untergrund hinein."

    Im Dezember 1774 brach die Rue d'Orléans auf einer Länge von 300 Metern ein und sackte 25 Meter tief in einen darunterliegenden Steinbruch. Einige Häuser folgten der Straße auf den Weg in den Untergrund.

    Als Konsequenz wurde zwei Jahre später der "Service de l'Inspection des Carrières” gegründet, eine Inspektionsbehörde, die bis heute die Kontrolle und Konsolidierung der Hohlräume unter Paris zur Aufgabe hat.
    Die Steinbrecher des Mittelalters hatten keine Karten von ihren Arbeiten angelegt, die größte Herausforderung für die neu geschaffene Behörde bestand im Auffinden isolierter, völlig vergessener Stollensysteme.

    1780 brach im Keller eines Hauses, das direkt neben dem größten innerstädtischen Friedhof, dem "Cimetière des Innocents" stand, eine Begrenzungsmauer unter dem Druck der Friedhofserde zusammen, und die sterblichen, zum Teil erst halb verwesten Überreste aus einem Armengrab stürzten in den Lagerraum und verteilten sich zwischen den Weinfässern und anderen Vorräten.

    Trotz des Widerstands der Kirche wurde die Auflösung des völlig überfüllten Friedhofs beschlossen, der vielen Parisern schon lange ein Dorn im Auge war. Nacht für Nacht wurden die Gebeine aus dem Hallenviertel über die Seine-Brücken bis ins heutige 14. Arrondissement gefahren, wo sie durch die alten Extraktionsschächte der Steinbrüche nach unten geworfen und von Arbeitern in den Hohlräumen zwischen den Stützpfeilern aufgeschichtet wurden.

    Als der Cimetière des Innocents leer war, wurden auch die anderen Kirchhöfe in Paris aufgelöst. Vier Jahre dauerte die Umsiedelung von 6 Millionen Skeletten in die Katakomben.

    "Vor uns liegt die Geschichte Frankreichs ... alle berühmten Menschen, die bis Ende des 18. Jahrhunderts in Paris beerdigt wurden, sind hier zur letzten Ruhe gebettet ... und zwar alle durcheinander. Aus den Schienbeinen und den Totenschädeln wurden Stützmauern errichtet, die kleineren Knochen sind dahinter.Das schafft ein theologisches Problem; am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn die Toten auferstehen und ihre Knochen zusammensuchen, dann wird hier ein verblüffendes Schauspiel stattfinden.

    Am diesem Tag kaufe ich mir auf jeden Fall eine Eintrittskarte für die Katakomben. Ich sehe schon, wie sich Rabelais mit Lully um ein Schienbein streitet: "Das gehört mir, gibt es mir sofort zurück, und auch den Knöchel, her damit!". Der Mann mit der eisernen Maske läuft einem anonymen Pariser hinterher, der Alchimist Nicolas Flamel, dessen Gebeine auch irgendwo hier liegen, versucht, ein letztes Mal den Stein der Weisen zu finden ... "

    Anfang der 1980er-Jahre rückte das verborgene Universum unter der Hauptstadt wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung. Viele Pariser merkten, dass man nur einen mit den Initialen der Inspektionsbehörde versehenen Kanaldeckel hochzuheben brauchte, um Zugang zu einer anderen Welt zu haben. Immer mehr Menschen verlegten ihre Spaziergänge in den Untergrund, Jugendliche markierten mit Spraydosen ihr Territorium, und manche der unterirdischen Säle verwandelten sich in bunt bemalte Partykeller. Die Boulevardzeitungen schrieben über schwarze Messen und Orgien, die in dem Labyrinth unter Paris abgehalten wurden.

    Der Boom rief die Autoritäten auf den Plan, im März 1984 forderte Jacques Chirac, damals Bürgermeister von Paris, ein Ende des unkontrollierten Treibens. Diejenigen der Kanaldeckel, die direkten Zugang zu den Steinbrüchen geben, wurden verschweißt, andere Zugänge wurden zugemauert oder mit Gittern verschlossen.

    Dadurch konnte zwar die Zahl der Besucher verringert werden, aber die verschworene Gemeinschaft der Kataphilen existiert weiter. Und das Internet hat den Untergrund von Paris weltweit bekannt gemacht. Gilles Thomas erhält regelmäßig Mails von amerikanischen, russischen oder australischen Freunden, die "mal wieder nach unten wollen.”

    "Cryptonauten” nennt der Anthropologe Jean-Didier Urbain die Menschen, die das Netzwerk der Steinbrüche unter der französischen Hauptstadt erforschen. Bei seiner eigenen Initiation vor zwei Jahren lief er durch die unterirdischen Gänge vom Park Montsouris im 14. Arrondissement bis unter sein Haus in der Rue Claude Bernard im 5. Arrondissement.

    "Ich war in meiner Welt, aber auf der anderen Seite. So wie auf der verborgenen Seite des Mondes. Ich habe meine Welt mit anderen Augen gesehen und dabei ein Gefühl der Freiheit verspürt, dass es nirgendwo sonst gibt. Weil keinerlei Druck ausgeübt wird ... selbst in den Ferien ... in der Welt des Tourismus und des Reisen gibt es immer diesen kommerziellen Druck, dieses und jenes noch zu machen und mitzunehmen, hier dagegen - nichts. Keiner sagt ihnen etwas. Als wäre man zum Mystiker geworden, ohne dass die Umgebung, die Freunde etwas gemerkt hätten. Als erlebe man ohne ihr Wissen die mystische Dimension der Wüste. Die Katakomben sind so etwas wie eine "unmittelbare Wüste”, eine andere Dimension in der unmittelbaren Nähe ..."

    "L'ailleurs immédiat”, die Erfahrung des Anderswo im Hier und Jetzt ist ein zentraler Begriff in den Arbeiten von Jean-Didier Urbain. Man brauche keine weiten Horizonte, schreibt er in einem Essay über die Welt der Kataphilen, viel wichtiger für den modernen Großstadtmenschen sei es, die Reduktion seiner Sinne auf das Hören und Sehen zu überwinden. Und wenn man in Paris lebt, ist der Ort für diese Erweiterung der Sinne direkt unter den Füßen.