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Reise ins chinesische Kanton von 1838

Der indische Autor Amitav Ghosh erzählt in seinem neuen Roman "Der rauchblaue Fluss" vom Handel mit Opium im Jahr 1838. Die chinesische Hafenstadt Kanton ist zu der Zeit eine pulsierende Metropole, doch dann beschließt das Kaiserreich, den Opiumhandel zu unterbinden.

Von Johannes Kaiser | 04.11.2013
    "Im 18. Jahrhundert importierten die Briten sehr große Mengen Tee aus China. Aber dieser Tee musste mit Silber oder Gold bezahlt werden und irgendwann ging den Briten das Silber aus. Sie suchten also nach einem Exportgut für den chinesischen Markt, fanden aber nichts, weil die Chinesen an den englischen Waren kein Interesse hatten. Was sie dagegen importierten, waren kleinere Mengen indischer Baumwolle und Opium für medizinische Zwecke. In den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts beschloss die britische East India Company darum, den Opiumhandel auszuweiten, baute in Indien immer mehr Opium an und schickte es nach China. Die Opiummenge stieg binnen von 30 oder 40 Jahren enorm an. Das führte in China zu finanziellen Verwerfungen und großen Gesundheitsproblemen, weil sich die Sucht immer weiter verbreitete. Wiederholt verbot die chinesische Regierung den Opiumgenuss, war aber nicht in der Lage, den Opiumhandel zu beenden. Die Briten schmuggelten weiterhin große Mengen nach China, bis die Chinesen dann 1837 beschlossen, den Opiumhandel endgültig zu untersagen. Das führte schließlich zum ersten Opium-Krieg."

    Wirtschaftsgeschichte als Hintergrund eines großen Historienepos – den indischen Schriftsteller Amitav Gosh fasziniert seit Langem die Ära des britischen Imperialismus, der kolonialen Unterwerfung Indiens und Asiens und dazugehört auch die Geschichte des Opiums. Zwar ist der erste Opiumkrieg, in dem die Briten die Chinesen mit Waffengewalt zwangen, den Opiumhandel weiterhin zuzulassen, nicht das Thema des neuen Romans "Der rauchblaue Fluss" des indischen Schriftstellers Amitav Gosh. Aber sein rund 700 Seiten starkes Buch greift die Zeit kurz davor auf, als erste Handelsbeschränkungen den äußerst lukrativen Opiumhandels behindern.

    Der spielte bereits in seinem vorherigen Roman "Das mohnrote Meer" eine wichtige Rolle, in dem sowohl die Geschichte des Mohnanbaus in Indien Anfang des 19. Jahrhunderts als auch die Geschichte der Emigration tausender verarmter Inder ausgebreitet wird, die sich als Kontraktarbeiter für die überseeischen Kolonien anheuern ließen. Amitav Gosh erzählt diese Ereignisse anhand einer Handvoll indischer Fremdarbeiter und Gefangener, die von der Ibis, einem ehemaligen Sklavenschiff nach Mauritius gebracht werden. Dort beginnt jetzt auch der zweite Band der von Gosh geplanten Ibis-Trilogie.

    Wir begegnen in "Der rauchblaue Fluss" erneut einigen der Fremdarbeiter der "Ibis", die das Schicksal bzw. der 57-jährige Autor diesmal auf die Reise mit einem Handelsschiff nach China schickt. Das gehört der Parsen Bahram Modi. Der hat in eine reiche Reederfamilie Kalkuttas eingeheiratet, die ihn allerdings nicht wirklich akzeptiert, obwohl er ihr mit seinen Geschäften zu großem Reichtum verholfen hat. Ausgesprochen profitabel ist vor allem das in der indischen Kronkolonie angebaute Opium, das Bahram nach China exportiert. Mit einem letzten großen Coup, einer besonders großen Landung Opium, möchte er das Startkapital gewinnen, um sich von der Familie lösen und eine eigene Firma gründen zu können. Ein riskantes Spiel, denn er weiß, dass China den Drogenhandel unterbinden will.

    "Bahram ist für mich eine sehr widersprüchlich, zugleich interessante und faszinierende Figur, weil er das Dilemma verkörpert, in dem Indien im 19. Jahrhundert steckte. Zum eigenen Nutzen kollaborierten eine Menge Leute mit den Kolonialherren und zogen daraus enorme Gewinne. Das hatte verheerende Folgen für die Nachbarländer, insbesondere für China. Erstaunlicherweise stammten viele der Opiumhändler aus Bombay und gehörten zur Gemeinschaft der Parsen. Ich habe mich insbesondere dafür interessiert, wie das Leben dieser Opiumhändler aussah und mit welchen Problemen sie sich auseinanderzusetzen hatten."

    Bis auf die Hafenstadt Kanton war es damals generell allen Ausländern verboten, chinesischen Boden zu betreten. Dort gab es vor den Toren der Stadt eine gesonderte kleine Handelsniederlassung namens Franqui Town, in der alle ausländischen Händler leben durften. Es war ihnen allerdings verboten, die Stadt selbst zu betreten. Sie durften nur mit ausgewählten chinesischen Händlern Kontakt aufnehmen und Geschäfte abschließen.

    "Sie durften dort nur fünf oder sechs Monate im Jahr leben und es war ihnen nicht erlaubt, Frauen oder Kinder mitzubringen, denn die Chinesen vermuteten sicherlich zu Recht, dass sie sich dann dort niederlassen und nie mehr weggehen würden. Das wollten sie verhindern. Alle Ausländer lebten auf dieser Viertelmeile Landstrich in 13 Faktoreien und die gehörten bestimmten europäischen Staaten. Ganz Europa war in der einen oder anderen Form vertreten. Keine gewöhnlichen Männer, vielmehr die Reichsten der Welt wohnten dort und schufen eine sehr bizarre Welt, in der sie in unglaublichem Luxus lebten, in Essen und Trinken schwelgten. Viele von ihnen waren fanatische Christen und verkauften doch zugleich Opium. Man kann das als Metapher für eine bestimmte europäische Geisteshaltung im 19. Jahrhundert ansehen: Was gut für Europa ist, ist gut für die Welt, auch wenn es oftmals überhaupt nicht gut für die Welt war."

    Der Roman geht in das Jahr 1838 zurück. Das chinesische Kaiserreich beschließt, den Handel mit Opium zu unterbinden. Die Empörung insbesondere unter den britischen Händler ist groß. Sie lehnen das Handelsverbot strikt ab, berufen sich zynisch auf den freien Handel, um ihre obszönen Drogenprofite weiterhin realisieren zu können. Es kommt zum massiven Konflikt. Amitav Gosh entlarvt hier die Argumentation vom freien Handel als wohlfeile Phrase. Ein Schelm, wer da Parallelen zur neoliberalen Wirtschaftsideologie unserer Zeit sieht.

    "Sie insistierten darauf, dass ein freies China auch einen freien Handel erlauben müsse. Die unglaubliche Ironie des Ganzen liegt nun darin, dass die britische East India Company gleichzeitig in Indien ein Opiummonopol errichtete. Die ganze Idee des Freihandels basierte also auf einer Form von Schizophrenie."

    Nur ein einziger Händler, ein amerikanischer Quäker, verweigert sich den Forderungen seiner Kollegen, geißelt die doppelzüngige Moral, die um des Profits willen das Elend Hunderttausender Süchtiger in Kauf nimmt. Der Parse Bahram zerbricht letztlich an diesem Gewissenskonflikt.

    Eingeflochten in die Geschichte des Opiumhandels hat Amitav Gosh die Geschichte des britischen Botanikers Fitcher Penrose und seiner jungen Assistentin Paulette, die ebenfalls nach Kanton unterwegs sind, um im Tausch gegen europäische Pflanzen seltene chinesische Blumen und Sträucher zu erwerben. Die erzielen in Europa Höchstpreise. So vermischen sich wissenschaftliche Neugier und kommerzieller Gewinn.

    "Damals war die Stadt Kanton, das heutige Guangzhou, eines der großen Zentren botanischen Austausches. Von Kanton aus wurde eine unglaubliche Vielfalt von Pflanzen in die Welt geschickt. Wenn Sie aus dem Fenster auf einen Garten schauen, kann ich Ihnen versichern, dass sehr viele Pflanzen, die Sie dort sehen, aus dem Kanton jener Zeit stammen. Es war ein enorm profitables Geschäft. Pflanzen waren extrem wertvoll. Mit einer einzelnen neuen Pflanze konnte man eine Menge Geld erzielen. Wenn wir an das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert denken, dann denken wir an die industrielle Revolution, wir denken an Maschinen usw. Wenn man aber nachschaut, was die Wirtschaft in Amerika oder England wirklich vorangetrieben hat, dann war das der Handel mit landwirtschaftlichen Gütern, die in Asien produziert wurden, Tee und Kautschuk zum Beispiel. China war damals bis auf Europa eigentlich das einzige Land, das begriff, was genetisches Erbe insbesondere in der Botanik bedeutet, und man hat es massiv geschützt. Anders als bei anderen Formen des kontinentübergreifenden Handels war es nicht so, dass die Europäer kamen, neue Pflanzen entdeckten und sie dann mit nach Hause brachten. In China hatten sie es mit sehr erfahrenen Gärtnern zu tun und einer völlig eigenständigen Form des Wissens."

    Der Leser geht denn auch mit dem Botaniker Penrose auf eine ebenso kurzweilige wie amüsante Entdeckungsreise durch die Gärten Asiens jener Zeit. Man spürt in dieser Figur zudem die Bewunderung des Schriftstellers für Alexander von Humboldt:

    "Penrose ist für mich eine sehr interessante und, wenn man so will, auch liebenswerte Figur. Er repräsentiert für mich mit das Beste des England des späten 18. und 19. Jahrhunderts: eine echte Bereitschaft, Wissen auszutauschen und eine echte Neugier auf die Welt, so wie sie ist, die Welt der Botanik, der Geologie."

    Zahlreiche Schicksale kreuzen sich in dem Roman, alle so ausgemalt, dass wir das Gefühl haben, die Personen vor uns zu sehen. Es ist verblüffend, mit welchem Einfühlungsvermögen Amitav Gosh jene Zeit wiederauferstehen lässt, obwohl ihm nur alte Stiche und Gemälde, historische Briefe und Berichte zur Verfügung standen. Seine Fantasie ist atemberaubend lebendig und schlägt so in Bann, dass man ihm bereitwillig selbst in die entlegensten Winkel der asiatischen Hafenstädte wie Singapur folgt, insbesondere aber in die kantonesische Handelsenklave. Farbenprächtig, detailreich und plastisch wie in einem Film wird das Vielvölkergemisch der Hafenstädte und Schiffe gezeichnet, erstehen vor unseren Augen Landschaften und Stadtansichten, Märkte und Kontors, entdecken wir, wie Kaufleuten und Kulis sich kleideten, vermeinen exotisches Essen zu schmecken und zu riechen, hören die Menschen reden. Da die aus aller Herren Ländern stammen, präsentiert uns Amitav Gosh ein Sprachengewirr, das sich des Französischen ebenso bedient wie des Englischen, Portugiesischen, Bengalischen, Chinesischen.

    "Der Indische Ozean ist bis heute die vielsprachige Landschaft. Da werden Tausende verschiedener Sprachen gesprochen. Für einen Seemann, der dorthin kam, Leute, die dort lebten oder herumreisten, bestand die Sprache aus zahllosen Splittern verschiedener Sprachen. Wie stellt man das dar? Romane sind so, wie sie sind. Man kann sie nicht in unterschiedlichen Sprachen schreiben, nur in einer. Ich beschloss also, verschiedene Versionen des Englischen zu benutzen und das ist das Wunderbare am Englisch des 19. Jahrhunderts: Es nahm sehr viele unterschiedliche asiatische Einflüsse in sich auf. Es war faszinierend, diese unterschiedlichen Formen von Englisch wieder zum Leben zu erwecken, von denen einige vergessen sind, andere weiterhin existieren. Ich selber bin so aufgewachsen, habe eine dieser Varianten des Englischen gesprochen. Es hat also sehr viel Spaß gemacht, mit diesen verschiedenen Formen der englischen Sprache, der Dialekte, der Sprachebenen zu spielen."

    Die Übersetzer Barbara Heller und Rudolf Hermstein haben die Mammutaufgabe meisterhaft bewältigt, die vielfarbigen Englischvariationen in ein Deutsch zu übertragen, das nicht lächerlich klingt. Zudem entschlüsselt ein umfangreiches Glossar viele Begriffe. Amitav Goshs Roman ist eine lebenspralle, abenteuerlich aufregende Entdeckungsreise nicht nur in eine vergangene Welt, in eine Frühform globalisierten Handels, sondern auch in ein Universum menschlicher Raffgier und Doppelzüngigkeit, Edelmutes und Neugier. Das klingt uns sehr vertraut.


    Amitav Ghosh: "Der rauchblaue Fluss", aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein und Barbara Heller, Karl Blessing Verlag München 2012, 720 Seiten, 24,99 Euro