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Reise ohne Wiederkehr

Alles in allem hatte Ibn Fattuma eine glückliche Kindheit. Wahrscheinlich deshalb wagt er es später, seinem Schicksal zu trotzen. Er wird von seiner jungen Mutter innig geliebt. Seinen alten Vater lernt er kaum kennen. Stattdessen unterweist ihn ein kluger Scheich in Sachen Religion und Leben. Vor allem begeistert sich der Kleine für die Geschichten von den weiten Reisen, die der Scheich früher unternommen hatte. Darin erinnert er sich besonders in dem Moment, da großes Unglück über Ibn Fattuma einbricht. Er hatte sich in ein bezauberndes Mädchen verliebt. Die Hochzeitsvorbereitungen sind bereits im vollen Gange, da schnappt der dritte Kammerdiener des Sultans ihm das Mädchen weg. In seiner Ohnmacht beschließt er, die Flucht nach vorne anzutreten: also auf Reisen zu gehen, die Welt kennenzulernen, um vielleicht in der Fremde ein paar Dinge zu entdecken, um so eventuell die Schiefstände im Land Islam, in dem er lebt, zu richten. Vor allem das sagenhafte Gaballand hat es ihm angetan. Es gibt Gerüchte, die besingen es als Paradies auf Erden. Doch Genaueres weiß man nicht. Und bis dahin ist es ein weiter Weg, der durch viele andere Länder führt. Also macht sich Ibn Fattuma auf eine lange Reise, von der er nie mehr zurückkehren wird.

Von Walter van Rossum | 11.02.2005
    Viele Wochen lang zieht er mit einer Karawane durch die Wüste, um endlich im Maschrikland anzukommen. Er traut seinen Augen nicht, wie die Menschen hier leben und wie sie sich ungeniert den Genüssen des Lebens und der Liebe hingeben. Im Maschrikland zelebriert man den Kult der Sonne, und natürlich gibt es auch weltliche Herrscher und Gesetze. Ibn Fattuma ist hinundher gerissen: Manches gefällt ihm, nachdem er sich mal daran gewöhnt hat, manches bleibt ihm zuwider. Doch vor allem findet er hier seine große Liebe: Arusa. Er zieht mit ihr zusammen und zeugt viele Kinder. Statt ein paar Wochen bleibt er etliche Jahre.

    Doch dann gibt es Krieg und Ibn Fatuma muss ins Nachbarland fliehen. Dort ist wieder alles anders und ihm widerfahren wiederum wunderliche und haarsträubende Dinge. Durch eine Intrige gerät er in Haft. Und zwanzig Jahre lang dämmert er in einem finsteren Verlies. Als er schließlich halbtot gerettet wird, denkt er über die Zukunft nach:

    Sollte ich in die Heimat mit leeren Händen zurückkehren oder meine Reise fortsetzen, um Neues zu erkunden und an die Türen des Schicksals zu klopfen? Ich haßte den Gedanken, als Versager zurückzukehren. Außerdem war es ja durchaus möglich, dass die Menschen, an denen mir etwas lag, gestorben waren. Nein, zurückkehren würde ich nicht. Ich wollte nicht zurückschauen. Als Reisender war ich aufgebrochen, also würde ich meine Reise auch fortsetzen. Dazu hatte ich mich entschieden, und das war mein Schicksal. Traum und Tat gehören zusammen wie Anfang und Ende.

    Also zieht er weiter. Wieder lernt er ein neues System kennen: eine neue Mischung aus Religion und Herrschaft, Tugend und Untugend, Gehorsam und Freiheit, und allmählich dämmert ihm, dass auch der real existierende Islam nicht von Allah stammt und nicht zu ihm führt, sondern Ordnungsphantasie unter anderen Ordnungsphantasien ist – von denen sich natürlich eine jede der anderen überlegen fühlt. Wohin auch immer er sich wendet, stets wird er von den Stereotypen der Gewalt und der Macht eingeholt, die sich hinter der bunten Vielfalt der unterschiedlichen Welten Bahn bricht.

    Ich erinnerte mich auch daran, wie viel Blut im Halbaland um der Freiheit willen geflossen war. Aber hatte die Geschichte des Islam in meinem Land etwa weniger Blut und Tränen aufzuweisen? Was war dem Menschen wichtig? Gab es einen einzigen großen Traum, oder gab es genauso viele Träume wie Länder und Regionen?

    So wird er im Laufe der Jahrzehnte zu einem suchenden Fremden. Doch das allein gibt ihm die Größe, den letzten Schritt zu unternehmen, nämlich in das sagenhafte Gaballand aufzubrechen. Wer wissen will, wie das ausgeht, der sollte die betörende 180-seitige Reise durch das Buch von Nagib Machfus selbst antreten. Der ägyptische Schriftsteller führt den Leser mit hinreißender Leichtigkeit auf unerhörte Ansichtshöhen: den Feldherrenhügel der Weisheit.

    Man weiß nicht, ob Nagib Machfus sich auf morgenländische Vorbilder bezieht oder ob er die Rhetorik orientalischer Weisheit nur ironisch zitiert, um eine Weltklugheit literarisch zu entfalten, der an der Tiefe des laufenden Tiefsinns in unseren Breiten Zweifeln lässt. Weisheit ist eine Sorte Erkenntnis, die sich nicht aus dem akrobatischen Gebrauch von Begriffen ableiten lässt, sondern auf die Lebenswirksamkeit des Denkens zielt. In allen Ländern, die Ibn Fattuma bereist, trifft er sich mit dem obersten Intelligenz-Priester. Es sind geistreiche Leute, die ihr Geld als Weltanschauungsberater der Macht verdienen. Auch bei uns gibt es diese Spezies. Wenn sie sich nicht gerade die Wunden lecken nach mörderischen Stellungskriegen mit solchen Barbaren wie den Rechtschreibereformern, dann preisen sie auf Ruhmeskanzeln das Abendland als Gipfel der Zivilisation und sie träumen davon, den Rest der Menschheit an ihrem Glück teilhaben zu lassen. Und manchmal halten sie Napalm für die letzte Schule der Freiheit.

    Da wären wir wieder bei den Kriegen, die "Die Reisen des Ibn Fattuma" wie einen roten Faden durchziehen. Dieses Buch ist übrigens bereits 1983 im Original erschienen. Da gab es die Globalisierung als Begriff noch nicht. Die Sache allerdings schon länger. Ein paar Jahrhunderte lang hieß das Kolonialismus. Und irgendwann kamen die Aufklärer und setzten das Recht auf Differenz und Fremde durch, wenigstens in der Theorie. Und nach dem Buch von Nagib Machfus dämmert uns, die Aufklärung könnten wir noch mal gebrauchen. Doch ziemlich sicher, wird sie nicht aus der hiesigen Intelligenzproduktion erwachsen.