Freitag, 19. April 2024

Archiv


Reisebericht aus Erzählungen

"Nabokov reist im Traum in das Innere Asiens" ist keine einfache Lektüre, aber eine lohnenswerte. Überraschend hat Dieter E. Zimmer festgestellt, dass die im Roman geschilderte Entdeckungsreise, die Vladimir Nabokov nie hat unternehmen können, trotzdem nicht einfach eine Ausgeburt seiner Fantasie war. Vielmehr hat sich Nabokov an die Auskünfte berühmter Entdeckungsreisender gehalten.

Von Sabine Baumann | 26.05.2006
    Den Geruch nach Lagerfeuer aus qualmendem Kamel-Dung, den Geschmack von Gerstenbrei oder den Anblick einer primitiven chinesischen Wassermühle würde man nicht auf Anhieb mit der Welt Vladimir Nabokovs in Verbindung bringen. Doch ihn faszinierte das raue Innere Asiens so sehr, dass er sich in den 30er Jahren von einer Berliner Emigrantenpension aus im Geiste dorthin versetzte. Das mondäne Leben Sankt Petersburgs um 1900, vornehme Stadtpaläste, komfortable Landsitze und elegante Ferien in Biarritz, die ihn als Kind geprägt hatten, vermisste er wohl. Aber ihn lockten eben auch verbotene Gegenden, Abenteuer, terra incognita - und dank der Bestände der Staatsbibliothek erlas und erträumte er sich gleich mehrere Expeditionsreisen, die er in seinem Roman "Die Gabe" schildert.

    Dieter E. Zimmer, Herausgeber der deutschen Werkausgabe Nabokovs, hat diese imaginierte Reisebeschreibung nun erstmals auf die meisten ihrer Quellen zurückgeführt und mit vielen Anmerkungen versehen als eigenständiges Buch publiziert. Zuerst präsentiert er das Abenteuer des fiktiven Schmetterlingsforschers aus Nabokovs Roman. Doch dann verleiht Zimmer dem Romaneinschub Flügel. Denn als nächstes kann der Leser diesen mit den von Nabokov konsultierten historischen Berichten vergleichen, die so zusammenmontiert wurden, daß sie denselben Streckenverlauf beschreiben wie Nabokov. Überrascht und überraschend hat Zimmer nämlich festgestellt, dass die im Roman geschilderte Entdeckungsreise, die Nabokov ja nie hat unternehmen können, trotzdem nicht einfach eine Ausgeburt seiner Fantasie war. Vielmehr hat sich Nabokov an die Auskünfte berühmter Entdeckungsreisender gehalten, darunter Russen, Engländer, Franzosen und nicht zuletzt Sven Hedin, die im 19. Jahrhundert Westchina, Ostturkestan, die Mongolei und Tibet erforscht haben.

    Über die Ausstattung ihrer Karawanen mit Cognac, Erbsenmehl, Silberbarren und Hufeisennägel, über die Behandlung wunder Pferderücken mit Jodoform und Vaseline informierte sich Nabokov aus erster Hand und studierte solch konkrete landschaftliche Gegebenheiten wie die wellenförmigen Sandhügel der Wüste Gobi, Birken mit roter Rinde oder die Höhlen von Pfeifhasen. Sogar die beiden in Chinesentracht durch die Wüste radelnden Amerikaner, denen seine Romanfigur begegnet, hat es wirklich gegeben.

    Wer also gedacht hätte, daß nur der für seinen originellen Stil berühmte Nabokov den Fokus darauf legen würde, wie sich die Hunde bei Hitze im kurzen Schatten der Pferde unterstellen oder dass einem alten Tibeter bei extremer Kälte Tränen zu Eiszapfen gefrieren, wird durch Zimmers gründliche Recherche eines Besseren belehrt. Solche Beobachtungen hatten Augenzeugen schon notiert; Nabokov hat die Bilder bloß aufgegriffen und in seine Schilderung eingebaut. Gerade weil er Konkretes und Verblüffendes wie etwa die im Eis eines Gebirgsflusses eingefrorenen wilden Yaks verwendet, konnte Zimmer ihm auf die Schliche kommen. Aus den verschiedenen in Frage kommenden Quellen sicherte er so die eine, wo der Expeditionsleiter nicht nur, wie damals bereits üblich, irgendeine Kamera dabeihat, sondern explizit die bei Nabokov zitierte Kodak. In vielen Berichten konnte Nabokov von räuberischen Tanguten lesen, die den Karawanen das Leben schwer machten. Wie Zimmer herausgefunden hat, hielt nur Hedin einmal fest, dass einige von ihnen rot-blaue Wollstiefel trugen, wie sie Nabokovs Held erblickt. Welche von vielen möglichen Marco-Polo-Ausgaben Nabokov für seine Wiedergabe bestimmter Anekdoten über den legendären Reisenden benutzt haben muss, kann Zimmer ebenfalls nachweisen und reproduziert sogar die zauberhafte Miniatur von Marco Polos Abreise aus Venedig, die im Arbeitszimmer von Nabokovs erdachtem Schmetterlingsforscher hing.

    Nur wenige Stellen haben der findige Zimmer und die Slawistin Sabine Hartmann nicht auflösen können, selbst Irrtümer Nabokovs oder seiner Gewährsmänner wurden gewissenhaft aufgedeckt und richtiggestellt.

    In seinem informativen und ausgewogenen Nachwort hebt Zimmer freilich auch hervor, worin sich Nabokovs erträumte Reise von den tatsächlichen unterschied. Nicht nur wird sie in einem Roman einem jungen Schriftsteller in die Feder gelegt, der ein Porträt seines verschollenen Vaters verfasst, so wie der junge Nabokov seinem ermordeten Vater ein Denkmal setzen wollte. Nicht nur überblendet Nabokov mehrere Reisen und wechselt dabei die Erzählperspektive so, dass mal der Vater und mal der Sohn handelnder Er und denkendes Ich sind. Sondern die erträumte Reise des Schmetterlingsforschers, der Nabokov selbst gern gewesen wäre, ist außerdem, wie Zimmer zu recht betont, noch radikal beschleunigt und entschlackt. In gewagten erzählerischen Sprüngen übergeht Nabokov die langwierige Mühsal der Expeditionen ebenso, wie er die Reflexionen und Schlußfolgerungen der Entdecker auslässt. Sein Held war aus naturwissenschaftlichem Ehrgeiz unterwegs, keineswegs um der dortigen Bevölkerung zu begegnen und ihre Kultur kennen zu lernen, selbst die verbotene tibetische Stadt Lhasa reizte ihn nicht. Dass auch Nabokovs Erzähler der Kulturchauvinismus der europäischen Entdecker anhaftet, merkt Zimmer unvoreingenommen und kritisch an, obwohl er deren Unverblümtheit zu Recht auch in mancher Hinsicht erfrischend findet.

    Dieses Buch, das Dieter E. Zimmer selber vorsichtig ein Experiment nennt, ist keine einfache Lektüre, aber eine lohnenswerte. Wie bei dem beschriebenen Karawanenzug muss sich der Leser einen Weg zwischen Nabokovs Text, den Expeditionsberichten und den manchmal doppelten Anmerkungen, Zimmers Nachwort und den biografischen Anhängen bahnen. Zwar ist zur Orientierung auf dem Vorsatzpapier des Bandes eine Karte mit dem bereisten Gebiet abgedruckt, doch leider ist ausgerechnet die bei Nabokov geschilderte Reiseroute darauf schlecht zu erkennen. Dennoch illustriert sie den Band auf ebenso ansprechende und nützliche Weise wie die zahlreichen Originalabbildungen aus den Entdeckerberichten.

    "Nabokov reist im Traum in das Innere Asiens" ist ein spannendes Buch nicht nur für Kenner und Fans des Autors, sondern auch für Leser, die sich in gebündelter, vielstimmiger Form von der Entdeckung eines bis heute für Europäer unbekannten und geheimnisvollen Landstrichs erzählen lassen wollen.