Donnerstag, 28. März 2024

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Reisefreiheit und Mauerfall
Verzweifelte Genossen im SED-Zentralkomitee

Mit der Rücktrittserklärung Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 beginnt die Götterdämmerung im SED-Zentralkomitee der DDR. Die Tonprotokolle aus den letzten Sitzungen des Gremiums belegen, wie kopf- und orientierungslos die Parteigenossen auf die Umwälzungen in ihrem Land reagiert haben.

Von Michael Groth | 03.10.2019
Der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker (rechts) mit dem Vorsitzenden des Ministerrates, Willy Stoph (Mitte) und Egon Krenz, Mitglied des Politbüros, auf der Ehrentribüne anlässlich der Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der Berliner Mauer im Jahr 1986 (Schwarz-Weiß-Aufnahme)
Hatten der Auflösung der DDR nichts mehr entgegenzusetzen: SED-Generalsekretär Erich Honecker (rechts), der Vorsitzende des Ministerrates, Willy Stoph (Mitte), und Politbüro-Mitglied und späterer Honecker-Nachfolger Egon Krenz (Imago/Sommer)
Erstausstrahlung 9. November 2014
Als Erich Honecker am Mittwoch, den 18. Oktober 1989, die neunte Tagung des Zentralkomitees der SED eröffnet, sind die Würfel längst gefallen. Eine Gruppe um Egon Krenz, zu der neben anderen Günter Schabowski, Willi Stoph und Erich Mielke gehörten, hatte die Rücktrittserklärung vorbereitet, die der scheidende Generalsekretär nun vorlesen muss:
"Liebe Genossinnen und Genossen! Nach reiflicher Überlegung und dem Ergebnis der gestrigen Beratung im Politbüro bin ich zu folgendem Schluss gekommen: In Folge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke der Partei und des Volkes heute und künftig verlangen. Deshalb bitte ich das Zentralkomitee, mich von der Funktion des Generalsekretärs des ZK, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrats der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik zu entbinden. Ich wünsche unserer Partei und ihrer Führung auch weiterhin die Festigung ihrer Einheit und Geschlossenheit und dem Zentralkomitee weiteren Erfolg. Erich Honecker."
Porträtbild von Erich Honecker, DDR-Staatsratsvorsitzender und SED-Generalsekretär
Am 18. Oktober 1989 trat Erich Honecker als DDR-Staatsratsvorsitzender und SED-Generalsekretär zurück (picture alliance/ dpa/ Sven Simon)
Krenz folgt auf Honecker
Dass Honecker die ja nur für die Veröffentlichung gedachte Namenszeile mitspricht, mag Ausdruck sein für die Verwirrung im obersten Gremium der Partei. Nach der Öffnung der Grenze in Ungarn, nach Ausreisen über Österreich und schließlich über die Tschechoslowakei, nach der Schlacht am Dresdener Hauptbahnhof und den Montagsdemonstrationen überall im Land schlägt für die Nachlassverwalter Honeckers die letzte Stunde. Egon Krenz, als Nachfolger im Generalsekretariat, an der Staatsspitze sowie im Nationalen Verteidigungsrat nominiert, soll das Schlimmste abwenden.
Dlf-Kommentar von 1989 zum Wechsel von Honecker auf Krenz
Egon Krenz wurde oft als Kronprinz Erich Honeckers bezeichnet. Den Machtwechsel in Ost-Berlin kommentierte für den Deutschlandfunk Karl Wilhelm Fricke, langjähriger Leiter der Ost-West-Abteilung des DLF und selbst prominentes SED-Opfer.
In der gleichen Sitzung verkündet der neue Mann unter dem Beifall der Genossen, dass es eine, wie er sich ausdrückt, "Zurückreformierung in kapitalistische Verhältnisse" nicht geben werde. Während das ZK tagt, brodelt es auf den Straßen. Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann erinnert auf der Sitzung an den Ernst der Lage:
"Wir haben keine Minute mehr Zeit. Der Egon muss vor die Fernsehkamera, der Egon muss vor die Fernsehkamera. Es geht doch gar nicht um dich, Egon, sondern es geht darum: Jetzt muss die Partei das Wort ergreifen, heute Abend noch. (Applaus) Au wei, liebe Genossen, wir werden zu vielem, was hier gesagt wurde, tage-, wochen-, monatelang diskutieren müssen in einer nie gekannten Art und Weise in diesem Zentralkomitee. Das wird alles geschehen. Bloß, um Himmels willen, Genossen, nicht in dieser Stunde. Uns steht das Wasser bis hierher. Wir stehen vor neuen gewaltigen Demonstrationen, die der Feind organisiert. Jetzt müssen die Kommunisten auf die Straße, in Leipzig muss die Partei an die Spitze. Wenn wir jetzt, wenn auch verspätet, uns nicht zu Wort melden, dann sind wir in der Gefahr, dass wir das Wort nicht mehr bekommen."
Die Emotionen schlagen hoch. Bauminister Wolfgang Junker ist soeben aus Leipzig zurückgekehrt: "Aber im Fernsehen, in der Sendung dort oben, ja, die Stadt zerfällt, was ja nicht wahr ist, es sind Teile der Stadt. Da werde ich als Idiot hingestellt. Was soll das alles? Wenn ich ein Idiot bin, muss die Partei darüber befinden."
Die Demonstrationen gehen weiter
Die Auftritte der Genossen im Fernsehen helfen nicht. Die Demonstrationen gehen weiter. Die DDR-Bürger strömen nach wie vor nach Prag und Budapest, um das Land anschließend in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Die nächste, die zehnte ZK-Tagung der SED beginnt am 8. November. Am folgenden Tag, dem 9. November, nimmt Generalsekretär Krenz das entscheidende Wort:
"Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet, die Frage der Ausreisen. Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie ja früher auch die ungarischen. Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt. Schließen wir die Grenzen zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können und auf diese Art und Weise ihren Einfluss auf uns ausüben. Selbst das würde nicht dazu führen, dass wir das Problem in die Hand bekommen, denn die Ständige Vertretung der BRD hat schon mitgeteilt, dass sie ihre Renovierungsarbeiten abgeschlossen hat, das heißt, sie wird öffnen. Wir würden auch dann wieder vor diesem Problem stehen."
Politbüro-Beschluss zur Reisefreiheit
Im Anschluss verkündet Krenz den Politbüro-Beschluss, der Geschichte machte. Von sofort an, so der Kern der umständlich formulierten Mitteilung, dürfen die Bürger der DDR ins Ausland reisen, sprich: in die Bundesrepublik. Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Dies sei, so Krenz weiter, am nächsten Tag zu veröffentlichen, dem 10. November. Am Nachmittag nennt Krenz den Verkünder der Nachricht:
"Der Genosse Schabowski wird wieder, wie gestern Abend, Fragen der internationalen Presse zu beantworten haben. Die Konferenz ist zu 18 Uhr einberufen. Ich denke, wir sollten ihn auch befreien, selbst wenn wir die Diskussion nachher weiterführen. Es wird sicherlich sehr viele Fragen geben zu unserer Parteikonferenz. Seit 15 Uhr, seit unser Beschluss veröffentlicht ist, die Parteikonferenz durchzuführen, gehen eine Vielzahl von Fernschreiben hier im Zentralkomitee ein, denen eine Parteikonferenz nicht weit genug ist, die einen Sonderparteitag fordern.
Mitarbeiter stülpen im Haus der Geschichte eine Glasvitrine über den Schabowski-Zettel.
Schabowskis Zettel
Der Zettel, den Günter Schabowski auf seiner Pressekonferenz am 9. November 1989 dabei hatte, galt als verschollen. Schabowski hatte den Zettel einem Bekannten gegeben. Der hat das Original für 25.000 Euro an das Haus der Geschichte in Bonn verkauft.
Schabowski übersieht die Sperrfrist
Auf der abendlichen Pressekonferenz übersieht der damalige Erste Sekretär der Berliner Partei-Organisation die Sperrfrist. Ein offenkundig verwirrter Schabowski gibt die Öffnung der Grenzen bekannt. Das Fernsehen überträgt live.
Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989. Am Abend des 09.11.1989 teilte SED-Politbüro Mitglied Günter Schabowski mit, daß alle DDR-Grenzen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin für DDR-Bürger geöffnet werden.
"Ich habe gerufen: ab sofort?"
Der Journalist Peter Brinkmann war Teilnehmer der folgenreichen Pressekonferenz, die den Mauerfall einleitete. Er habe dem SED-Funktionär Günter Schabowski damals die entscheidende Frage gestellt, sagte Brinkmann im DLF. Dadurch sei Schabowski zu einer klaren Antwort gedrängt worden.
Während man sich im ZK über Parteikonferenz oder Sonderparteitag streitet, sind die Schleusen geöffnet. Unbeeindruckt von der neuen Reiseregelung versucht Verteidigungsminister Keßler noch am 9. November, das Schlimmste zu verhindern:
"Im Aktionsprogramm der Partei ist bekanntlich vorgesehen, das Grenzregime zu überprüfen. (...) Es wird vorgeschlagen etwa, das Grenzgebiet an der Staatsgrenze zur BRD von gegenwärtig fünf Kilometer auf 500 Meter bis maximal 1.000 Meter zu verringern. Dadurch wurden circa 450 Ortschaften mit 170.000 Einwohnern aus dem Grenzgebiet herausgelöst werden.
Günter Schabowski während der historischen Pressekonferenz am 9. November 1989.
Günter Schabowski während der historischen Pressekonferenz am 9. November 1989 (dpa / picture-alliance)
Katastrophale Wirtschaftslage
Als Grund für die Ausreisen wird immerhin die katastrophale Wirtschaftslage erkannt. Günter Ehrensperger, der ZK-Abteilungsleiter für Planung und Finanzen, nimmt Stellung:
"Wenn man mit einem Satz die Sache charakterisieren will, warum wir heute in dieser Situation sind, dann muss man ganz sachlich sagen, dass wir mindestens seit 1973 Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse gelebt haben und uns etwas vorgemacht haben. Es wurden Schulden mit neuen Schulden bezahlt, die Zinsen sind gestiegen, und heute ist es so, dass wir einen beträchtlichen Teil von mehreren Milliarden Mark jedes Jahr für Zinsen zahlen müssen. Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen, als wir produzieren."
Fall der Mauer bringt Zentralkomitee in Bedrängnis
Gegen 20:45 Uhr schließt Egon Krenz die Sitzung. Während auf der Politbüro-Etage des Staatsratsgebäudes das von Keßler angesprochene Aktionsprogramm noch einmal überarbeitet wird, erfahren Krenz und andere vom Fall der Mauer. ZK-Mitglied Helmut Koziolek wird in dem Buch "Das Ende der SED", das die letzten ZK-Protokolle dokumentiert, mit den Worten zitiert: "Wir müssen das unter Kontrolle bekommen."
Als sich das ZK am Morgen des 10. November wieder versammelt, sind viele tausend Ostdeutsche in der Bundesrepublik und in Westberlin. Egon Krenz eröffnet die Sitzung mit einer Warnung:
"Ich weiß nicht, ob wir alle noch nicht den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenzen gerichtet. Es besteht eine große Gefahr, dass uns viele Menschen verlassen. Der Druck war nicht zu halten. Es hätte nur eine militärische Lösung gegeben, Genossen, damit wir uns einig sind. Durch das besonnene Verhalten unserer Grenzsoldaten, unserer Genossen, vom MDI, vom MFS ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden. Über zwei Drittel derer, die heute Nacht Westberlin besucht haben, sind inzwischen wieder auf ihren Arbeitsplätzen hier. Das ist ein positives Signal, aber der Druck nimmt weiter zu. Die Genossen aus den Bezirken sprechen davon, dass die Situation sich nicht verbessert."
SED-Chefideologe spricht vom "Feind vor der Tür"
Der Stellvertreter Mielkes, Rudi Mittig, versichert die unveränderte Einsatzbereitschaft der Stasi: "Die Genossinnen und Genossen der Staatssicherheit, Töchter und Söhne der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen, haben stets mit größter Einsatzbereitschaft dem Volk, dem sozialistischen Staat und unserer Partei verantwortungsbewusst und treu gedient. Ich kann im Auftrag aller Kollektive versichern: Die Mitarbeiter der Staatssicherheit sind auch unter den gegebenen komplizierten Bedingungen gewillt, die gestellten Aufgaben zu erfüllen."
Der SED-Chefideologe Hager greift das sogenannte Aktionsprogramm auf. Der Feind stehe vor der Tür: "Was wir dringend brauchen, ist ein Aktionsprogramm. Wem das noch nicht klar ist, der hätte das vielleicht heute Nacht erkennen können, als der Bundestag geschlossen das Deutschlandlied sang und damit offenkundig wurde, welche Pläne realisiert worden sind und was noch beabsichtigt ist. Es ist beabsichtigt, mit unserer Partei Schluss zu machen, und es ist beabsichtigt, die DDR zumindest in eine große Abhängigkeit zu bringen."
Selbstkritik und Warnungen
Wieder und wieder diskutieren die Genossen über die Frage, wer denn die Schuld für das Desaster trage. Sogar Kurt Hager, der einst auf die Frage, ob man in der DDR nicht von Gorbatschows Reformen lernen könne, antwortete, wenn der Nachbar die Tapeten wechsele, müsse man dies nicht gleich nachmachen, sogar Kurt Hager also übt Selbstkritik:
"Ich muss auch sagen, dass ich ganz offensichtlich immer weiter mich entfernt habe vom tatsächlichen, realen täglichen Leben, von dem, was in den Betrieben oder in den Kaufhallen oder sonst wo vor sich ging. Diese schrittweise Loslösung hat dann auch zu theoretischen Arbeiten geführt, in denen sich dieses reale Leben letztlich nicht mehr so widerspiegelte, wie das hätte der Fall sein müssen. Die zweite Frage, die mir gestellt wird: Wie konnte es zu solch falschen Einschätzungen der Prozesse in der Sowjetunion kommen, bei denen nicht der welthistorische Charakter der Umgestaltung, die schmerzhafte und widersprüchliche Durchsetzung einer neuen Qualität des Sozialismus im Vordergrund standen, sondern die Furcht vor dem Überschwappen. Und dazu habe ich beigetragen durch diese unglückselige Äußerung über die Tapeten."
Eine Hand umgreift ein erhaltenes Teilstück der Berliner Mauer
30 Jahre Mauerfall - Meine ganz persönliche Wende
Am Abend des 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Die 16 Deutschlandfunk-Landeskorrespondenten berichten, wie sie den Mauerfall und die Zeit davor und danach erlebt haben – ob als Demonstrant der DDR-Opposition oder im tiefen Westen vor dem Fernseher.
Hager zieht Parallelen zum Juni 1953: "Die Situation heute ist schärfer, ernster als 1953. Sie ist deshalb ernster, erstens, weil wir es nicht nur mit oppositionellen gutgemeinten, dem Sozialismus günstig gesinnten Bewegungen zu tun haben, sondern weil wir es auch mit konterrevolutionären Tendenzen zu tun haben. Sie ist deshalb gefährlicher, weil wir es mit dem Vorbild - in Anführungszeichen - Ungarn zu tun haben, das vom Wege des Sozialismus schon weit abgewichen ist, auf dem Weg zu einer bürgerlichen parlamentarischen Demokratie sich befindet."
Panik und Chaos
Generalsekretär Egon Krenz spricht von Panik und Chaos und wagt den Blick nach draußen: "Die Lage hat sich in der Hauptstadt, in Suhl und in anderen Städten äußerst zugespitzt. Arbeiter verlassen Betriebe, hundert Werktätige haben im VEB-Elektromechanik Kaulsdorf aufgehört zu produzieren, beachtenswert: verstärkte Abkäufe von hochwertigen Konsumgütern. Im Parteiaktiv herrscht Unverständnis zu den beschlossenen Reisemöglichkeiten. Aus Erfurt wird informiert, dass es am Grenzübergangspunkt Wartha einen starken Andrang gibt."
Drei Tage später, am 13. November, tritt das ZK abermals zusammen. Am gleichen Tag findet eine dramatische Volkskammersitzung statt. Die Blockparteien kündigen der SED die Gefolgschaft. Erich Mielke spricht seine vielleicht berühmtesten Worte, und Hans Modrow wird zum Vorsitzenden des Ministerrats gewählt. Im Zentralkomitee fürchten die Genossen noch immer um Macht und Einfluss. Kandidat Siegfried Funke warnt:
"Zurzeit werden draußen in den Betrieben Parteisekretäre reihenweise abgeschlachtet. Sie müssen sich gerade bekennen für das, was das Politbüro getan hat. So ist es im Moment. Ich muss sagen, es ist schon ein Psychoterror, der hier entwickelt wird. Und mir hatte heute in der Volkskammer mal dieser Appell gefehlt an die humanistischen Ideale, dass man auch noch unter zivilisierten Menschen ist."
Staat und Gesellschaft außer Kontrolle
Der fortschreitende Verlust der Kontrolle über Staat und Gesellschaft und der Verlust der Kontrolle des Apparates über die Partei hinterlassen auch bei Egon Krenz Spuren:
"Ich denke, hier ist ein Antrag gestellt worden, Genossen, und jetzt lasst uns über diesen Antrag abstimmen. Das ist doch eine unerträgliche Situation. Drei-, viermal am Tage kriege ich von verschiedenen Genossen, die erst mal das vorgeschlagen haben, dann das vorgeschlagen haben, eine andere Meinung. Genossen, ich bitte, auch mal daran zu denken: Wenn man kämpfen will, dann muss man zusammenstehen ich bitte um Verzeihung hier. Ich halte das für unerträglich, auch von Mitgliedern des Zentralkomitees an einem Tag einen Brief zu kriegen, wir machen eine Parteikonferenz, am anderen Tag unterschreiben die gleichen Genossen, wir machen einen Parteitag, und wenn wir heute den beschließen, schreiben sie morgen, wir müssen ihn übermorgen machen. Also, das ist doch unerträglich. Wir brauchen doch eine Disziplin in dieser Partei. Wir sind doch kein zusammengelaufener Haufen. Entschuldigt bitte, bitte um Verzeihung, Genossen. Aber irgendwo sind ja die Nerven auch (...)."
Um Wahlen, soviel ist klar, wird die SED nicht mehr herumkommen. Der neue Regierungschef Hans Modrow plädiert für einen möglichst späten Zeitpunkt:
"Wenn wir gegenwärtig Wahlen machen, können wir uns alle ausrechnen, wie hoch der Prozentsatz für die SED sein wird. Das können sich auch die anderen Parteien ausrechnen, wie sie aussehen, und das Land wird nachfolgend von Leuten regiert werden, wir kommen Menschen in die Hand, die darauf, das darf man ja in diesem Plenum sagen, wir veröffentlichen ja darüber nichts, die darauf in keiner Weise vorbereitet sind.
Der Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, spircht am 9. Dezember 1989 beim Sonderparteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Ostberlin zu den Delegierten.
Der Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, am 9. Dezember 1989 beim Sonderparteitag der SED (picture-alliance / dpa)
Gefälschte Kommunalwahlen
1989 waren die gefälschten Ergebnisse der Kommunalwahlen ein weiterer Tropfen, der das Fass DDR schließlich zum Überlaufen brachte. Der heute auch als Wahlfälscher verurteilte Krenz informiert die Genossen auf der ZK-Tagung am 3. Dezember:
"Ich möchte auch in diesem Zusammenhang ein persönliches Wort noch sagen, was jetzt sehr stark diskutiert wird im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen: Ich meinerseits habe nicht die Absicht weiterzugehen, als ich bisher öffentlich gegangen bin. Selbstverständlich ist mir klar und bewusst, dass das erzielte Wahlergebnis mit der tatsächlichen politischen Situation im Lande weder damals noch heute übereingestimmt hat. Es gab aber keine andere Möglichkeit, ein anderes Wahlergebnis bekanntzugeben, weil das so entsprechend den Protokollen, die auch in den Kreisen existierten, zusammengestellt worden ist. Würden wir jetzt, wie das einige vorschlagen, diese Fragen neu aufrollen, Genossinnen und Genossen, ich habe die Furcht, dann räumen wir nicht nur Positionen, die wir noch besitzen, dann können wir ganz nach Hause gehen."
Blick in ein Wahllokal in Ost-Berlin während der Kommunalwahl am 7. Mai 1989.
Wahlkontrolle - Der Anfang vom Ende der DDR
Am 7. Mai 1989 fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Zahlreiche Bürgerrechtsgruppen überwachten damals die Wahllokale und kontrollierten die Stimmenauszählung. Die erstmalige aktive Einmischung war eine Aktion gegen den Wahlbetrug.
Die Basis übernimmt die Macht
Am Morgen jenes Tages werden Harry Tisch und Günter Mittag in Wandlitz verhaftet. Um 8:30 Uhr kommt das Politbüro zu seiner letzten Sitzung zusammen. Auf der ZK-Sitzung, die um 13 Uhr beginnt, gibt Modrow bekannt, dass Alexander Schalck-Golodkowski sich in den Westen abgesetzt hat. Das Zentralkomitee bereitet auf dieser letzten Sitzung seinen Rücktritt vor.
Zu diesem Zeitpunkt sind die alten Bezirkssekretäre bereits weitgehend abgelöst. Auch in Schwerin hat die Basis die Macht übernommen. Der 86 Jahre alte Bernhard Quandt, ein Kommunist der ersten Stunde, liefert einen dramatischen Epilog:
"Und jetzt soll es mit der Partei zu Ende sein? Das darf nicht sein, Genossen! Das darf nicht sein! Das Zentralkomitee muss so stark sein, dass aus seiner Mitte ein neues Politbüro entsteht, das mit der Verbrecherbande des alten Politbüros - entschuldigt Genossen – nichts zu tun hat! Wir haben im Staatsrat die Todesstrafe aufgehoben. Ich bin dafür, dass wir sie wieder einführen und dass wir alle standrechtlich erschießen, die unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben!
Zentralkomitee löst sich selbst auf
Um 14:50 Uhr schließt Egon Krenz die letzte Tagung des ZK. Nennenswerten Widerspruch, gar Gegenwehr gegen die Selbstauflösung gibt es nicht. In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember lässt Gregor Gysi als Leiter der parteiinternen Untersuchungskommission die Zimmer des Politbüros versiegeln. Mit dem Fall der Mauer hatte der Staat seine Existenzgrundlage verloren. Der Sturz des Politbüros und des Zentralkomitees wurden damit unvermeidlich. Es folgte das Ende der DDR.