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Reisen im Kopf

Ein Reisereporter, der nicht reist, steht im Mittelpunkt des Romans "Kein Feuer, das nicht brennt". Darin entfaltet Rayk Wieland eine fundamentale Tautologie: Egal, wie weit man reist, man kann gar nichts Neues entdecken, da man sich selbst ja ohnehin immer mitnehmen muss.

Von Matthias Eckoldt | 24.05.2012
    "Du hast Probleme mit der Realität!",

    wirft der Chefredakteur seinem Reisereporter W. vor, als sich herausstellt, dass dieser eine Reportage über Nordkorea geschrieben hat, ohne je dort gewesen zu sein. Und mehr noch: W. war nicht nur nicht in Nordkorea, er war auch nicht in der Kalahari Wüste, weder in Khao Lak, noch in Omsk oder auf den Wiener Weihnachtsmärkten, kurzum an keinem jener Orte, von denen seine hochgelobten Berichte für die International Geographic Revue handeln. Und noch mehr noch: W., der bereits in Wielands Debüt-Roman "Ich schlage vor, dass wir uns küssen" hinter der Mauer im vermeintlich sozialistischen Teil Deutschlands saß, hat noch zwanzig Jahre nach dem kläglichen Ende seines Heimatlandes nicht einen einzigen Schritt aus Ostberlin heraus gewagt. Die einstige Mauer, die für seine ehemaligen DDR-Mitbürger das zentrale Ärgernis war, existiert für ihn weiter. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus lebenspraktischen. Sie bedeutet für den skurrilen Protagonisten des Romans eine Grenze, die es ermöglicht, den eigenen Wirkungskreis so gering wie möglich zu halten. Reisefreiheit ist für W. immer die Reisefreiheit der anderen. Jener nämlich, die in den Augen des nicht reisenden Reisereporters Zwangsneurotiker sind, weil sie unbedingt nachprüfen müssen, ob Wanderdünen nun wirklich wandern und ob Kapstadt tatsächlich am Kap liegt. W. bleibt da lieber zu Hause. Sein Leben zwischen Computer, Kühlschrank und Eckkneipe ist ein Plädoyer für den schon von Pascal angemahnten friedensstiftenden Zustand, einfach ruhig in seinem Zimmer bleiben zu können. So entfaltet Rayk Wieland in seinem Roman "Kein Feuer, das nicht brennt" eine fundamentale Tautologie: Egal, wie weit man reist, man kann gar nichts Neues entdecken, da man sich selbst ja ohnehin immer mitnehmen muss.

    "All diese Illusionen, die man hat, wenn man sich auf Reisen begibt, die Selbstverwirklichungsfantasien, den Erlebnishunger, die Abenteuerlust, das alles erfüllt sich ja kaum auf Reisen. Man macht sich da immer was vor, dass man in Nigeria war und Wasserfälle sah und da auch das einmillionste Digitalfoto geknipst hat. Die Reiserei erfüllt sich eigentlich nicht in der Gegenwart, und es ist die Frage zu stellen, warum machen wir es trotzdem? Was suchen wir eigentlich dort in einer Welt, die wir aus Büchern, vom Fernsehen, vom Film, vom Internet gut kennen. Die Frage wird gestellt in diesem Buch: Was suchen wir da in der Ferne? Uns selbst offenbar nicht, denn das könnten wir auch zu Hause."

    Sein Arbeitgeber denkt offensichtlich nicht in solchen Kategorien und kündigt W. wegen Betruges. Dieser Grund – so legt Wielands Roman nah - ist scheinheilig. Denn die Massenmedien funktionieren auch nach einem tautologischen Prinzip: Sie sehen die Wirklichkeit nicht, wie sie ist – so gern sie es auch behaupten – sondern erzeugen mit einem hochselektiven Wahrnehmungsmuster ihre eigene Realität – die Medienrealität, die den Prinzipien der Skandalisierung, Moralisierung und Personalisierung gehorcht. So müsste das Tun des Protagonisten W. eigentlich im Sinne des massenmedialen Systems sein, nämlich aus eintausend bereits publizierten und damit in der Medienrealität bewährten Texten den Eintausend und ersten Artikel zusammenstellen, anstatt leiblich an den Ort des Geschehens zu fahren und möglicherweise auf Umstände zu treffen, die das bisherige mediale Bild stören könnten. Vor diesem Reflexionshintergrund rät ihm denn auch sein Freund Moses im Roman, das Ganze als Inszenierung darzustellen – à la Tom Kummer, dem journalistischen Meisterfälscher, der Interviews mit verschiedenen Hollywoodgrößen veröffentlichte, ohne je mit ihnen auch nur ein Wort gewechselt zu haben.

    "Ich schüttelte den Kopf. Es klang verlockend, aber ich hatte Nordkorea nicht gefälscht, es war mir nur zu weit weg gewesen. Und Meisterfälscher wollte ich nicht sein. Meisterfälscher klang nach Hobbykeller, nach gekränktem Ehrgeiz, nach Second-Hand-Kreativität. Meisterfälscher war noch trostloser als Reisereporter."

    Wer Wieland liest, fühlt sich vielleicht erinnert an die erhellende Achsenspiegelung der Wahrnehmung, die Andy Warhol einst in Bild und Wort zu praktizieren verstand:

    "Manche Leute sagen, dass das, was im Film passiert, unwirklich sei, aber tatsächlich ist es so, dass das, was dir im Leben passiert, unwirklich ist."

    Dieser Aperçu des Pop-Art-Künstlers könnte als Motto für Wielands Roman dienen, wenn an seiner Stelle nicht bereits ein Zitat aus dem I Ging, dem chinesischen Buch der Wandlungen, stünde:

    "Nicht fördernd ist es, wohin zu gehen."

    "Eigentlich müsste, wer reist, zu Straßenkreuzungen aufbrechen, zu Fabriken, zu Riesenhafenanlage, weil das sind Orte, an denen man wirklich Dinge sehen kann, die noch nicht totbeschrieben sind ... Die touristischen Orte sind eigentlich in Wirklichkeit gar nicht mehr richtig da, weil sie sind überlagert von Klischees und Zuschreibungen, die nie eintreffen."

    Das Konzept der Tautologie verfolgt Wieland in seinem Roman bis in die Sprache hinein. Bereits im Titel "Kein Feuer, das nicht brennt" deutet Wieland an, was er im Text als originär neue Stilart erfinden und sogleich zur Meisterschaft führen wird: die tautologische Ironie. Indem das Gleiche als Gleiches bezeichnet wird, verwandelt es sich zu-gleich:

    "'Du hier?'", fragte ich.
    'Du hier?', fragte sie.
    'Ja', sagte sie.
    'Ja', sagte ich.
    Dann umarmten wir uns, wie wir uns noch nie umarmt hatten, was kein Wunder war, denn wir hatten uns noch nie umarmt. Das überragende Verdienst der Fremde, überlegte ich, besteht vielleicht darin, dass man sich freut, Bekanntes anzutreffen."


    Auch Joschka Fischer geistert durch den Roman, und der Leser erfährt nicht, ob es sich nun um den ehemaligen Außenminister, um sein Double oder um eine fixe Idee des Protagonisten handelt. Diese tautologische Luftspiegelung jedenfalls wird zum Ausgangspunkt eines furiosen erzählerischen Zwischenspurts: Als Taxifahrer verursacht er einen Unfall, in dessen Folge der Protagonist W. unfreiwillig, weil bewusstlos, in ein Westberliner Krankenhaus transportiert wird. Der Reisereporter a.D. beantragt daraufhin Asyl in der nordkoreanischen Botschaft, und als sich herausstellt, dass sich die Dependance des kommunistischen Landes mittlerweile in ein Hotel verwandelt hat und für derlei Anträge nicht mehr zuständig ist, beschließt W. tatsächlich auf Reisen zu gehen. Nach Peking, an die chinesische Mauer und nach Schanghai. Vor Ort findet er genau das vor, was er erwartet hat. Die große Enttäuschung, dass alles so ist, wie tausend Mal beschrieben, mischt sich mit der großen Erleichterung, dass sich die eigenen Vorurteile bestätigen. Das Resümee, das W. sicher nicht in der International Geographic Revue hätte veröffentlichen können, lautet:

    "Wenn ich eine Reisereportage über Schanghai zu schreiben hätte, würde sie beginnen mit den Sätzen: 'Haben Sie gerade nichts vor? Dann bleiben Sie dabei und kommen Sie auf keinen Fall in diese Stadt.'"

    Am Schluss steht W. ohne Geld da, ohne Perspektive, ohne Motivation und ohne Idee für sein weiteres Leben. Sogar seinen Pass hat er im Überschwang eines Proseccorausches verbrannt, als er in Konkurrenz zum nicht wirklich brennenden Fernsehkaminfeuer eine echte Flamme im Aschenbecher einer Bar entfachte. Und nun? Nichts nun. Der Roman hört einfach auf und überantwortet den weiteren Abstieg des W. der Fantasie des Lesers. Diese anarchische Erzählweise passt haargenau zu dem geistig und sprachlich kühnen Wurf, den Wieland mit Witz und Verve komponiert hat.

    Sicher kann man "Kein Feuer, das nicht brennt" auch als bissig-komische Kritik an unserer modernen Reisewut lesen, doch entgeht einem dabei der tiefere Sinn des Romans. Hier liegt kein satirischer, sondern ein philosophischer Roman vor, der nicht einfach nur die Realität kritisiert, sondern den Status der Realität grundsätzlich infrage stellt.

    Rayk Wieland: Kein Feuer, das nicht brennt.
    Antje Kunstmann Verlang, 160 Seiten, 16,95 Euro