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Reisen und Schreiben

Mit seiner Textsammlung "Die Kunst der Flucht" aus dem Jahr 1996 erinnert Sergio Pitol an die Genre übergreifenden Aufzeichnungen von Elias Canetti und W.G. Sebald, in denen Erzählung und Essay ineinander übergehen. In drei großen Blöcken berichtet Pitol von der Erinnerung, dem Schreiben und dem Lesen.

Von Arnold Thünker | 01.10.2008
    "Ich lebe in Xalapa, einer Provinzstadt mit einer ausgesprochen schönen Umgebung. Morgens gehe ich hinaus aufs Land. Dort habe ich eine Hütte, und ich verbringe mehrere Stunden damit, zu schreiben und Musik zu hören. Ab und zu mache ich eine Pause und spiel im Garten mit meinem Hund."

    Das Leben des mexikanischen Schriftstellers Sergio Pitol war keineswegs immer so geruhsam, wie er es hier anklingen lässt. Pitol ist Weltbürger, Schriftsteller, Diplomat und Übersetzer. Die Essaysammlung "Die Kunst der Flucht" ist das Resümee eines wortverliebten und engagierten Kosmopoliten. In einer Mischung aus Bildung, Witz und unbestechlicher Beobachtung schildert Pitol Episoden aus seinem ereignisreichen Leben und seinen Erfahrungen im literarischen Kosmos.

    Die Sammlung von Texten aus dem Jahr 1996 erinnert an die Genre übergreifenden Aufzeichnungen von Elias Canetti und W.G. Sebald, in denen Erzählung und Essay ineinander übergehen. In drei großen Blöcken berichtet Pitol von der Erinnerung, dem Schreiben und dem Lesen. Der Leser wird in ein Panorama des europäischen und lateinamerikanischen Geistes hineingezogen, das an keiner Stelle droht akademisch zu werden. Die souveräne Leichtigkeit der Texte bringt durchaus auch komische Momente hervor.

    Im Oktober 1961 besucht Sergio Pitol Venedig. Auf dem Wege hat der kurzsichtige Schriftsteller seine Brille verloren. Das hindert ihn jedoch nicht, gleich in die prachtvolle Welt der Lagunenstadt einzutauchen. Nur, die Kunstwerke und historischen Bauten erscheinen ihm wie in Nebel getaucht.

    "Mir entgingen die Einzelheiten, die Umrisse verschwammen; riesige bunte Flecke, prächtige Glanzlichter einer vollkommenen Patina tauchten überall vor mir auf. Ich sah dort den Schimmer von Altgold, wo es gewiss Risse in einer Mauer gab. Alles war in Nebel getaucht, wie auf den geheimnisvollen, von Turner kolorierten Vedute di Venezia. Ich sah und sah nicht, nahm Bruchstücke einer wandelbaren Wirklichkeit wahr. Das Gefühl, mich in einem Randbereich zwischen Licht und Finsternis zu befinden, wurde immer eindringlicher, als ein feiner tanzender Sprühregen das Helldunkel schuf, in dem ich mich bewegte. Je, mehr mir der Nebel die Sicht auf die Paläste, Plätze und Brücken verschleierte, desto glücklicher fühlte ich mich."

    Reisen und Schreiben sind für Pitol vom Zufall bestimmte Tätigkeiten. Man ist sich nur des Aufbruchs sicher. Keiner weiß, was ihm unterwegs geschehen wird, das Schicksal ihm bietet.

    Pitols Literatur ist frei, so frei wie es Cervantes immer gefordert hat, betont Juan Villoro in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Cervantes - Preis 2005 an Sergio Pitol.

    In seinen Romanen, die allesamt auf Deutsch im Verlag Klaus Wagenbach erscheinen, versteht es Pitol brillant seine Figuren zu arrangieren. In "Eheleben" beauftragt eine Frau verschiedene Liebhaber ihren Mann zu ermorden. Doch einer nach dem anderen scheitert. Für Pitol haben die besten Seiten der Literatur etwas Ursprüngliches, Unerforschliches. Als Leser erreicht man diese Sphären. Völlig unmöglich, die Schönheit solcher Seiten der Literatur vollständig erklären zu wollen.

    Pitols literarischen Leitsterne sind allen voran Jorge Luis Borges, Thomas Mann und Anton Cechov. "Der Zauberberg" ist für Pitol eines der zentralsten Bücher der Weltliteratur.

    "Ich halte den Zauberberg für die härteste Prüfung, der sich ein Geist unterwerfen kann, für die Kamera, die ein Mentalitätsspektrum genau wiedergibt. Ein Ignorant wird sich in den Falten dieser Prosa verlieren, und ihm kommt es gewiss so vor, als enthielten diese tausend Seiten eine Summe der Dummheit, die sich nur mit seiner eigenen vergleichen lasse. Manche werden sich diesem Werk auch mit priesterlicher Verehrung zuwenden, und ganz anders, als sie sich vorstellen, sind sie am wenigsten fähig, das Buch zu erfassen. Ihre törichte Strenge wird sie daran hindern, Mann zu verstehen, einen wesenhaften parodistischen Autor, einen Denker, gewiss, der jedoch das Denken der ätzenden Säure einer schonungslosen Ironie unterwarf."

    Pitol ist nicht nur ein vagabundierender Leser, sondern auch ein ebensolcher Übersetzer. Durch seine Übersetzungen wurden unter anderen Autoren wie Nikolai Gogol, Witold Gombrowicz, Henry James und Joseph Conrad in Mexiko populär.

    Doch es ist keineswegs so, dass Pitol in seiner Hütte auf dem Lande die aktuellen Geschehnisse in der Welt aus dem Auge verlieren würde. Als ehemaliger mexikanischer Diplomat in Paris und Prag liegt ihm die Entwicklung seines Landes nach wie vor am Herzen. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn er in "Kunst der Flucht" an den Aufstand der Indios von Chiapas 1994 erinnert, ein Ereignis, das den Schriftsteller lange am Schreiben hinderte. Ein Kommunique des Aufständischen Subkommandante Marcos, der die Welt mit seinen offenen Presseerklärungen überraschte, dokumentiert Pitol in seinem Buch voller Anerkennung für die Wortwahl des Guerilleros.

    Sergio Pitol ist ein Schriftsteller, der sich wundern kann, der der Realität mehr abgewinnt als bloße Effekte, der nicht müde wird, Gerechtigkeit zu fordern, in der Gewissheit, dass Literatur das Leben verändert. "Die Kunst der Flucht" ist ein gelungener Beitrag zu diesem Vorhaben.


    Sergio Pitol
    Die Kunst der Flucht
    Aus dem mexikanischen Spanisch übersetzt von Ulrich Kunzmann
    Erschienen bei Matthes & Seitz, Berlin, 2007, 383 S., 26,80 Euro