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Religiöse Vielfalt
Religion und Freiheit - zwei Welten begegnen sich

In knapp zwei Dritteln aller Staaten wird die Religionsfreiheit missachtet. Tendenz steigend. Das besagt ein Bericht der beiden christlichen Kirchen in Deutschland: Fast täglich gibt es Nachrichten über Gewalttaten im Namen der Religion.

Von Burkhard Schäfers | 05.05.2015
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    Kann die Welt liberal, gelassen und konstruktiv mit religiöser Vielfalt leben? (picture alliance / dpa / Karl Thomas)
    "Jede Religion hat fundamentalistische Strömungen. Ich verstehe unter Fundamentalismus vor allem die Bemühung, einer pluralen Welt mit sehr vielfältigen Herausforderungen zu entgehen und zu einer eindeutigen Stellungnahme zurückzufinden. Unter Ausblendung all der anderen Herausforderungen der Religionen, der Kultur, der Welt, der Fragen unserer Zeit."
    Drangsaliert, verschleppt, umgebracht
    Religiöse Fanatiker, die offenbar nicht damit leben können, dass ihre Mitmenschen einen anderen Glauben haben: Dieses Phänomen scheint zuzunehmen. Der Münchner Dogmatiker Peter Neuner beschäftigt sich damit seit vielen Jahren. Die Freiheit der anderen wird eingeschränkt, sie werden drangsaliert, verschleppt, umgebracht. Dabei galt lange die These von der Säkularisierung: Vom Rückzug der Religion in einer zunehmend aufgeklärten Welt.
    "Die gesamte Tendenz eines Säkularismus ist ja eine europäische Angelegenheit. Weltweit ist die Ausnahme Europa. Insgesamt sind die Religionen in einer expandierenden Bewegung. In Ostasien auf jeden Fall - China, Korea. Ähnlich die Situation in den USA, wo man auch von Säkularisierung in gar keiner Weise sprechen kann."
    Schematisches Freund-Feind-Denken
    Besonders im Fokus steht der Islam: Al-Qaida, der IS, Boko Haram oder al-Shabaab. Die Terroristen verfolgen ein schematisches Freund-Feind-Denken. Ihr Ziel ist die Vernichtung jeder anderen Lehre. Manche meinen, der Islam neige deshalb zur Gewalt, weil er die Aufklärung nach westlichem Verständnis noch vor sich habe. Diese These bezeichnet Professor Neuner als verkürzt. Denn die islamische Welt sei in der Vergangenheit durchaus kulturell führend gewesen.
    "Wenn wir ans frühe oder hohe Mittelalter denken, wo ja auch die westliche Philosophie, die Scholastik, durch den Islam wesentliche Kenntnisse gewonnen hat – die Mathematik, die Astronomie – da war die islamische Welt wesentlich weiter als damals die abendländische Welt."
    Diese kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften gingen aber seit dem 13. Jahrhundert zu großen Teilen wieder verloren:
    "Es kam zur Katastrophe, zur Einnahme von Bagdad durch die Mongolen. Und es kam dazu, dass aus politischen Gründen Philosophie verboten wurde. Dieses Empfinden, ins Hintertreffen geraten zu sein, scheint mir einer der großen Gründe zu sein für Enttäuschungserlebnisse und für den Versuch, mit Gewalt das Fremde zu zerstören."
    Dem Islam ein anderes Gesicht geben
    Ist der Islam unvereinbar mit dem Gedanken der Freiheit Andersgläubiger? Dem widersprechen etliche Wissenschaftler. So verweist der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf auf politische und kulturelle Einflüsse: Sie würden dem Islam je nach Zeit und Ort jeweils ein anderes Gesicht geben.
    "Es gab muslimisch geprägte Gesellschaften mit hoher Ambiguitätstoleranz, die vieles ermöglicht hat, was in westlichen Gesellschaften zu dieser Zeit überhaupt nicht möglich war."
    Ein Vorwurf lautet, der Islam sei frauenfeindlich und homophob. Blickt man in die Geschichte, lasse sich dieses Bild nicht aufrechterhalten, sagt Theologe Graf:
    "In vielen muslimisch geprägten Kulturen waren Liebesbeziehungen zwischen Männern lange Zeit Teil der Kultur. Wir wissen, dass es Freiräume für Frauen gab, die es in manchen christlich geprägten Gesellschaften zu der Zeit nicht gab. Unter dem Einfluss des westlichen Kolonialismus werden zum Teil auch islamisch geprägte Kulturen sehr viel dogmatischer und rigider. Insofern haben wir es mit modernen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun."
    Politik muss Grundlage schaffen
    Religionsfreiheit gilt als wesentliche Errungenschaft demokratischer Staaten, als Voraussetzung dafür, dass Mehrheiten und Minderheiten in einer Gesellschaft friedlich zusammen leben können. Diese Grundlage kann nur die Politik schaffen. Was aber, wenn Religion genau das zu verhindert sucht. Etwa weil sie politisiert wird?
    "Ich sehe, dass in der Gegenwart sehr viele muslimische Akteure auf eine neue Einheit von Religion und Politik setzen. Und das ist sicherlich etwas, was mit Vorstellungen einer offenen, pluralistischen, liberalen Ordnung nur sehr schwer zu vereinbaren ist. Insofern gibt es Spannungen."
    Der Islam wird derzeit oft als Religion wahrgenommen, die Freiheit begrenzt. Dabei gibt es durchaus einen Richtungsstreit zwischen Traditionalisten einerseits und liberalen Muslimen andererseits.
    "Es gibt natürlich viele liberale Theologen in islamischen Gesellschaften. Aber die haben in aller Regel keine große Resonanz, weil ihnen die entsprechenden sozialen Trägerschichten – ein selbstbewusstes, freiheitsorientiertes Bürgertum etwa – fehlen. Vielleicht reden wir zu viel über Religion und zu wenig über Sozialstrukturen. Darüber, dass es in bestimmten muslimisch geprägten Gesellschaften eher eine feudale Kultur gibt, in der so etwas wie selbstbewusste Bürgerlichkeit keine starke Rolle spielen konnte."
    Mit religiöser Vielfalt gelassen und konstruktiv umgehen
    Letztlich geht es um den Absolutheitsanspruch der Religionen, um die Frage von Wahrheit. Als einer der bedeutendsten Religions-Theoretiker, die sich mit dem Thema auseinandersetzten, gilt der liberale protestantische Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch - geboren vor 150 Jahren, gestorben 1923. Von Troeltsch könne man lernen, mit religiöser Vielfalt gelassen und konstruktiv umzugehen, meint Friedrich Wilhelm Graf:
    "Man muss darüber nachdenken, ob das, was als Wahrheit bezeichnet wird, nicht in ganz unterschiedlicher Gestalt erscheinen kann. Troeltsch hat von einer Polymorphie – von einer Vielgestaltigkeit – der Wahrheit gesprochen. Und man muss Menschen deutlich machen, dass wenn sie ihren individuellen Lebensentwurf leben wollen, sie das dann auch anderen zugestehen müssen."
    Mit dieser Errungenschaft der Religionsfreiheit hat sich auch das Christentum lange schwergetan. Bis heute beklagen manche, Freiheit führe zu Beliebigkeit, der Glauben verdunste. Der Dogmatiker Peter Neuner hingegen begründet religiöse Toleranz gerade aus der christlichen Botschaft heraus.
    "Nicht aus dem Mangel an Glauben, sondern aus der christlichen Botschaft selbst folgt, dass jeder Mensch seine Würde hat. Und dass diese Würde unantastbar ist, und damit auch die Freiheit unbedingt gilt. Es ist eine Toleranz, die nicht aus Glaubensschwäche, sondern aus Glaubensfestigkeit kommt. Wer diesem Jesus von Nazareth nachfolgen will, kann nicht Fundamentalist sein."