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Religion des Shopping

Der Politikwissenschaftler und frühere innenpolitische Berater von Bill Clinton, Benjamin R. Barber, beklagt in seinem neuen Buch das "infantile Ethos", das die Marketingstrategie des permanenten Konsumierens um des Wachstums willen, hervorrufe. Er sieht die Demokratie in Gefahr. Consumed heißt Barbers Buch, das Auswege aus der Konsumfalle verspricht. Hans-Martin Lohmann hat es für uns besprochen:

Von Hans-Martin Lohmann | 25.02.2008
    Schon mit sechs Monaten können Babys innere Bilder von Firmen-Logos und Maskottchen entwickeln, und das bedeutet, dass schon mit zwei Jahren Markentreue begründet werden kann. Wenn die Kinder schulreif sind, können die meisten schon Hunderte von Marken-Logos erkennen.
    Schöne, neue Welt des Kapitalismus! Verkündet wird sie von US-amerikanischen Marketing-Strategen. Sie arbeiten für Institutionen, die auf so vertrauenerweckende und optimistisch stimmende Namen wie "Center for a New American Dream" hören. Erklärtes Ziel solch menschenfreundlicher Institutionen ist es, Kinder so früh wie möglich zu unkomplizierten Verbrauchern heranzuzüchten und ihre Konsumpräferenzen zu beeinflussen. In einer einschlägigen Bibel mit dem Titel Kids as Consumers heißt es

    ( Kinder) haben am wenigsten und wünschen sich folglich am meisten. Es bietet sich daher an, sie erobern zu wollen.
    Bekanntlich ist der US-amerikanische Verbrauchermarkt der mit Abstand größte der Welt. Zusammen mit Kanada sind die Vereinigten Staaten - gerade einmal gut fünf Prozent der Weltbevölkerung - für fast ein Drittel der weltweiten Ausgaben für privaten Konsum verantwortlich, gefolgt von Westeuropa, das mit 6,4 Prozent der Weltbevölkerung auf 29 Prozent des Privatverbrauchs kommt. Während also der große Rest der Welt, allen voran die Menschen Afrikas, mit einer minimalen Versorgung mit Konsumgütern leben muss, steht der reiche Norden vor dem Problem, auf hoffnungslos übersättigten Verbrauchermärkten immer neue Produkte an den Kunden bringen zu müssen - Produkte, die niemand braucht und die trotzdem verkauft werden müssen, um den kapitalistischen Verwertungsprozess in Gang zu halten.

    In dieser Situation setzt der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts immer stärker auf das, was der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber "infantilistisches Ethos" nennt, also auf die Erzeugung einer mentalen und psychischen Einstellung, die auf rasche und umstandslose Wunscherfüllung zielt. Damit das System funktioniert, müssen Erwachsene zu Kindern werden, die immerzu ihr quengelndes "Ich will" rufen, während Kinder wiederum wie erwachsene Verbraucher mit Markenangeboten geködert werden - je früher, desto besser. Es ist für Barber kein Widerspruch, dass Gesellschaften, die demographisch immer rasanter altern, zugleich immer infantilistischer werden. Die Shopping Mall, das Einkaufszentrum ist der ideale Ort, an dem junge und alte Konsumenten verweilen und Bedürfnisse befriedigen, die sie gar nicht haben. Der Autor spricht denn auch von einer neuen "Religion des Shopping", um dergestalt anzudeuten, dass der gute alte Kapitalismus Max Webers, der auf Produktion und Askese und nicht auf Konsum basierte, endgültig ausgedient habe.

    Barber lässt keinen Zweifel daran, dass er den neuen Kapitalismus mit seinem neuen Konsumententypus, der auf narzisstische Instantbefriedigung aus ist - right or wrong my shopping -, für eine verhängnisvolle Fehlentwicklung hält. So ähnlich las man es allerdings auch schon vor knapp dreißig Jahren in Christopher Laschs kulturkritischem Pamphlet über Das Zeitalter des Narzißmus und ein paar Jahre später in Neil Postmans Buch über Das Verschwinden der Kindheit, und man fragt sich, ob Benjamin Barbers Diagnose über die von Lasch und Postman wesentlich hinausgeht oder ihr etwas Neues hinzufügt, wenn er schreibt:

    Das Ethos, das den postmodernen Konsumkapitalismus beseelt, ist eines des freudlosen Zwangs. Der moderne Verbraucher ist kein Genussmensch, der seinem freien Willen folgt, sondern ein zwanghafter Käufer, zum Konsum getrieben, weil die Zukunft des Kapitalismus davon abhängt. Er ist nicht so sehr der glückliche Sensualist als vielmehr der zwanghafte Onanist, ein widerstrebender Süchtiger, der sich mit wenig Vergnügen an sich selbst zu schaffen macht.
    Und an einer anderen Stelle heißt es:

    Erstmals glaubt eine Gesellschaft, ihr wirtschaftliches Überleben verlange eine Art kontrollierter Regression, eine Kultur, die statt der Reifung die Kindlichkeit fördert.
    Im Zentrum von Barbers Klage über den exzessiven Konsumismus steht der gewiss nicht unbegründete Verdacht, dass die Gesellschaft der Bürger selber Schaden nimmt, indem das, was einmal von öffentlichem Belang und Interesse war, zugunsten des Privaten zurückgedrängt wird. An einer Fülle von Beispielen demonstriert der Autor, dass in der US-amerikanischen Konsumentendemokratie, die die Befriedigung privater Bedürfnisse zur allein seligmachenden Religion erklärt, Fragen, die das Gemeinwohl betreffen, ebenfalls privatisiert werden. Tatsächlich zeigt die US-amerikanische Gesellschaft uns Europäern womöglich unsere eigene Zukunft, wenn sich der Staat als Sachwalter des Öffentlichen immer mehr von seinen ursprünglichen Aufgaben zurückzieht und öffentliche Angelegenheiten privaten Interessen ausliefert. Wo Schulen, Universitäten, Gefängnisse, das Gesundheitswesen und andere öffentliche Güter zu frei verhandelbaren Objekten des Marktes werden, erlischt Barber zufolge jegliches bürgerschaftliche Engagement und läuft die Res publica Gefahr, vom Markt gänzlich verschlungen zu werden.

    Benjamin Barber, ein in der Wolle gefärbter Liberaler, der der Demokratischen Partei nahesteht - in den neunziger Jahren war er innenpolitischer Berater der Clinton-Regierung -, will nicht den Kapitalismus abschaffen. Das nicht. Aber er leidet erkennbar unter dessen konsumistischen Auswüchsen und möchte ihn wieder auf eine ordentliche und demokratische Bahn lenken, ihm sozusagen sein 'menschliches Gesicht' zurückgeben. Um diese Idee zu plausibilisieren, bedient er sich allerdings eines ziemlich durchsichtigen Tricks, indem er zwischen einem einstmals 'guten' und einem heute 'schlechten' Kapitalismus unterscheidet. Im historischen Rückblick auf die Anfänge und das sog. 'Goldene Zeitalter' des Kapitalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert kommt Barber zu dem schmeichelhaften Ergebnis, dass der Kapitalismus in jener Phase eine im Wesentlichen rationale Veranstaltung gewesen sei. "Berechnende Investoren" und "umsichtige Buchhalter" hätten Regie geführt und dafür gesorgt, dass beim kapitalistischen Wirtschaften alles mit rechten Dingen zuging. Unternehmer-Heroen wie John D. Rockefeller und Andrew Carnegie scheffelten nicht nur Milliarden, sondern taten auch Gutes, indem sie sich als Philanthropen und Mäzene betätigten. (Das Gleiche tut heute Bill Gates.) Staat und Gewerkschaften kämpften in der liberalen Ära des Kapitalismus für ein Mindestmaß an Partizipation und Verteilungsgerechtigkeit. Alles sei gut oder doch wenigstens ziemlich gut gewesen.

    Doch dann sei irgendwann die Verbraucherrevolution und mit ihr das infantilistische Ethos gekommen - und die Welt "verdüsterte sich", wie Barber schreibt. Der Leser freilich fragt sich, ob dieses Bild wirklich stimmig ist. Zwar war der Kapitalismus früherer Epochen, wie auch sein schärfster Kritiker, Karl Marx, konzedierte, in einer bestimmten Hinsicht außerordentlich erfolgreich. Aber kann man deshalb sagen, er sei weniger irrational, weniger menschenverachtend gewesen als heute? Wer in den Chroniken des Kapitalismus und seines globalen Siegeszuges blättert, stößt allenthalben auf Geschichten, die Barbers freundliche Sicht der Dinge Lügen strafen.

    Umgekehrt muss man darauf bestehen, dass der von Barber so genannte Konsumkapitalismus nicht eine besonders perfide Ausgeburt eines unkontrolliert und verrückt gewordenen Wirtschaftssystems ist, sondern Fleisch vom Fleisch des ganz normalen Kapitalismus, sozusagen dessen legitimer Spross. Es liegt in der Logik der Selbstverwertungsinteressen des globalen Kapitals, dass es sich immer neue Anlagemöglichkeiten sucht. Angesichts der Überproduktion von überflüssigen Waren, die auf eine begrenzte Nachfrage und Kaufkraft stoßen, ist es deshalb nur folgerichtig und 'vernünftig', dass auch Kinder als Konsumenten ins Visier der Strategen des Kapitals geraten und dass umgekehrt Erwachsene infantilisiert werden, um im Sinne des Systems als hemmungslose Verbraucher zu 'funktionieren'. Wo sollte man sonst auch hin mit all dem industriell hergestellten Müll?

    In den letzten Kapiteln seines Buches macht Barber ein paar matte Vorschläge, wie man den Fallstricken des "Hyperkonsumismus" entkommen könnte - überzeugend klingt das nicht. Der Autor ahnt wohl selber, auch wenn er es nicht explizit ausspricht, dass es keinen 'guten' und keinen 'schlechten', sondern nur den einen Kapitalismus gibt: Man kann ihn nur ganz oder gar nicht haben.

    Hans-Martin Lohmann besprach: Benjamin R. Barber: Consumed. Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt. Übersetzt von Friedrich Griese ist das Buch bei C.H. Beck erschienen, hat 395 Seiten und kostet 22,90 Euro.