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Religion und Integration
Ressource des Guten

Hilft Religion bei der Integration von Flüchtlingen oder schadet sie? In Berlin diskutierte darüber eine Runde mit Margot Käßmann. Erwartungsgemäß gibt es keine einfache Antwort: Die heilsamen Kräfte der Religion würden übersehen, kritisierte die evangelische Theologin und ehemalige EKD-Ratsvorsitzende.

Von Verena Kemna | 01.02.2016
    Die Theologin Margot Käßmann zu Gast im Studio von Deutschlandradio Kultur.
    Margot Käßmann diskutierte mit Micha Brumlik und Ahmad Milad Karimi über Religion und Integration. (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    Um es gleich vorweg zu sagen: Welche Rolle die Religion bei der Integration von Geflüchteten in Deutschland und Europa spielt, auf diese komplexe Frage wusste am Ende keiner der drei Diskussionsteilnehmer eine abschließende Antwort. Einig waren sich die evangelisch-lutherische Theologin Margot Käßmann, der Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi und der Kenner des Judentums Micha Brumlik vor allem in einem: Für religiöse Menschen, egal welcher Religionsgemeinschaft sie angehören, sollte es selbstverständlich sein, jedem "Fremden" mit Toleranz und Respekt zu begegnen. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, betonte, wie wichtig es sei "Orte der Begegnung" zu schaffen. Gegenseitiges Kennenlernen sei der Schlüssel gegen Ängste und Vorurteile. Sie nennt als Beispiel eine Kirchengemeinde, in der Flüchtlinge persönlich von den Gemeindemitgliedern betreut werden.
    "Die haben überhaupt keine Angst weil sie die Namen kennen. Sie kennen die Menschen, sie kennen die Fluchtgeschichten, sie wissen, wer das ist. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, Menschen die Angst zu nehmen, dass sie nicht von den Flüchtlingen, der Lawine, dem Problem sprechen, sondern von Karim und Aishe, die sie kennen. Was wir als christliche Gemeinden leisten können, ist, Begegnungsorte schaffen, und deshalb halte ich die Massenunterkünfte für ein ganz großes Drama."
    Die Reformationsbotschafterin der EKD vermisst in der Flüchtlingsdebatte biblische Werte wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik spricht von "gelebten Werten". Verpflichtende Integrationsvereinbarungen, wie sie die Unionsparteien fordern, lehnt er ab.
    "In einer liberalen Gesellschaft müssen wir mutig genug sein, die Normen und Grundsätze und Prinzipien unseres Zusammenlebens in der alltäglichen Kommunikation zu vermitteln und nicht dadurch, dass wir irgendwelche Revers oder sonst was unterschreiben lassen. Sogar wenn wir es mit Geflüchteten zu tun haben, die absolut gegen den Wertekanon der Bundesrepublik sind, werden die nicht schlau genug sein, das Ding trotzdem zu unterschreiben? Das hilft doch überhaupt nicht, das meine ich."
    Viel zu selten kämen in der Öffentlichkeit die positiven Perspektiven für eine künftige gesellschaftliche Entwicklung zur Sprache, sagt Ahmad Milad Karimi. Der Islamwissenschaftler lehrt an der Universität Münster. Er selbst ist im Alter von 13 Jahren als Flüchtling aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Deutschland stünde zwar vor großen Herausforderungen, doch die seien vor allem positiver Art.
    "Deutschland wird viel jünger, Deutschland wird bunter. Die Muslime in Deutschland, das ist nicht mehr vornehmlich türkisch geprägt, das wird sich verändern. Es werden eigene religiöse Kulturen entstehen können. Die Multilingualität wird stark sein. Das sind unglaublich positive Reize, die wir aufnehmen können. Wir sind auf einmal Teil einer größeren Welt, das ist nicht einfach eine idyllische Heimat, die es nie gegeben hat."
    Flüchtlinge sollten nicht über ihre Religionszugehörigkeit definiert werden. Schließlich seien viele vor militanten Islamisten geflohen. Karimi bezeichnet diese Flüchtlinge als religiös verwundet.
    Wenn die Welt gerade an Religionen erkrankt, dann denke ich schon, dass sie auch nur darin Heilung finden kann. Das ist schon wichtig, dass wir selbst die Religion ins Spiel bringen als eine Ressource für das Gute, das Heilsame, aber nicht diejenigen, die gerade geflüchtet sind. Denn sie sind oft Opfer von religiösem Fundamentalismus.
    Mit derart traumatisierten Menschen über Religion zu sprechen, verbiete sich von selbst, meint Karimi. Der Publizist Brumlik sieht in der öffentlichen Angstdebatte vor dem Islam eine Folge historischer Entwicklungen.
    "Da haben wir es mit tiefen Schichten des Bewusstseins des christlichen Abendlands zu tun, Abwehrreflexe seit vier- fünfhundert Jahren."
    Die Theologin Margot Käßmann ergänzt: Spätestens seit dem 11. September 2001 würden in der Öffentlichkeit die Bezeichnungen Terrorist und Islamist ganz selbstverständlich in einem Atemzug genannt. Wer seine religiöse Überzeugung öffentlich lebt, sei längst in der Rolle sich verteidigen zu müssen,
    "Das wird überhaupt nicht mehr wahrgenommen, dass Religion einen friedensstiftenden Faktor bilden kann. Religion wird vermehrt als gefährlich, als fundamentalistisch angesehen und dadurch gibt es eine massive Abwehr."
    Dabei sieht sie, gerade in Deutschland, viele positive Beispiele für einen toleranten Umgang mit Religion.
    "Christen, Juden, Muslime und Menschen ohne Religion können sich an einen Tisch setzen und miteinander essen. Da sind wir vielleicht auch durch unsere Geschichte durchaus prädestiniert zu sagen, da gibt es Projekte wo das möglich ist. Das würde ich gerne mehr hervorheben, dass wir sagen, in unserem Land ist das möglich."
    Am Ende eine wohltemperierte Diskussion in einer aufgeheizten Debatte verbunden mit der Aufforderung aus dem Publikum unbedingt weiter öffentlich zu diskutieren.