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Religion und Literatur
Poetik-Dozenten bei den Wiener Theologen

Christliche Theologie ist den biblischen Texten verpflichtet. Doch moderne Literatur? Wird sie von Theologen wahrgenommen? Jan-Heiner Tück forscht zum Verhältnis von Religion und Literatur. Er richtet nun eine "Poetikdozentur" an der Theologischen Fakultät der Uni Wien ein. Schillernde Namen wie Sibylle Lewitscharoff oder Thomas Hürlimann oder Nora Gomringer haben zugesagt.

Von Henning Klingen | 23.03.2016
    Die deutsche Autorin Nora Gomringer.
    Nora Gomringer,Trägerin des 39. Ingeborg-Bachmann-Preises und eine der ersten Poetik-Dozenten an der theologischen Fakultät der Uni Wien (Johannes Puch/ORF/dpa)
    Mit einem Bekenntnis ließ der Schriftsteller Martin Walser aufhorchen. Es waren drei Wörter, die vor inzwischen vier Jahren veröffentlicht wurden: "Gott fehlt. Mir." In seinem Büchlein "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" setzte Martin Walser sich mit dem großen reformierten Theologen Karl Barth auseinander. Ein Literat, der sich der Theologie widmet? Der von Gott redet? Noch sei dies eher die Ausnahme, stellt der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück fest, der seit Jahren zum Verhältnis von Religion und Literatur forscht:
    "Theologen, die sich mit Literatur befassen, neigen dazu, schöne Stellen zu suchen, gewissermaßen wie ein Trüffelschwein Literatur abzusuchen. Was dabei oft zu kurz kommt, ist der Kontext. Umgekehrt kann man bei Literaturwissenschaftlern nach wie vor eine gewisse Reserve gegenüber religiösen Themen feststellen. Das hängt teilweise mit antikirchlichen Affektlagen zusammen, hängt mit der Sorge zusammen, Literatur theologisch zu funktionalisieren."
    Gegenseitige Vorbehalte überwinden
    Es gibt jedoch laut Tück gute Gründe, diese gegenseitigen Vorbehalte zu überwinden. Denn beide Seiten – Theologie wie Literatur – könnten viel voneinander lernen:
    "Also das erste, was Theologen von Literatur lernen können, ist eine erhöhte Sensibilität für Sprache. Wir haben oft verbrauchte Vokabulare, die nicht mehr das treffen, was sie einmal bezeichnet haben. Und insofern heißt Literatur rezipieren immer auch, in eine Sprachschule gehen. Ein zweites ist: Literatur imaginiert andere Welten, macht vertraut mit Horizonten, die einem selbst vielleicht nicht vertraut sind. Insofern würde ich sagen, ist nicht nur die Philosophie, sind nicht nur die Humanwissenschaften wichtige Referenzpunkte für die Gegenwartstheologie, sondern auch die Literatur."
    Derzeit werden in der Theologie drei Zugänge verfolgt, um Spuren des Religiösen in der modernen Literatur auszumachen: Zum einen wird nach expliziten, also eindeutigen religiösen Metaphern, Bildern und Gedanken in literarischen Texten gesucht. Zum anderen gibt es den Weg, in der Literatur anhand literarisch verarbeiteter Verlusterfahrungen jenes Thema dingfest zu machen, das gläubige Menschen mit Gott umschreiben. Wie etwa bei Martin Walser. Gott wird bei ihm zur Chiffre für Grenzerfahrungen, die sich in der "normalen", nicht-religiösen Sprache kaum erschöpfend beschreiben lassen.
    Tück nennt eine dritte Lesart. Sie sei seines Erachtens auch durch das Konzil gedeckt: nämlich das Nachdenken "über anthropologische Grenzerfahrungen – Liebe, Trauer, Tod. Woher kommen wir? Wer sind wir? Das ist interpretatorisch schon etwas anspruchsvoller, wenn man Autoren, die explizit kein religiöses Vokabular bedienen, doch auf Subtexte hin absucht oder die Frage stellt: Was passiert eigentlich, wenn zur Verarbeitung von Trauer, von Abschied, kein religiös aufgeladenes Vokabular mehr zur Verfügung steht?"
    Dieser Zugang interessiert Tück besonders. Denn hier wird Religion, wird die Vokabel "Gott" nicht etwa affirmativ, wie ein Gegenstand, dessen man sich sicher sein kann, verwendet, sondern als Protestfigur: Autoren protestieren damit gegen einen banalen, eindimensionalen Realismus, der die Welt auf das beschränkt, was sichtbar, greifbar ist. Religion sei die Chiffre für das "Dahinter", so Tück.
    "Es geht darum, Gebrochenheitserfahrungen, aber auch emphatische Glückserfahrungen in den Blick zu nehmen. Also etwa bei Judith Herrmann und ihren fünf Erzählungen "Alice" geht es ums Zurückbleiben-Müssen, ums Weiterleben. Hier erreicht die Sprache eine Dichte, die gar nicht religiöses Vokabular bemühen muss; wo im Subtext eigentlich schon die metaphysische Obdachlosigkeit, aber auch eine Reduktion der Wirklichkeit auf das nur-Sichtbare durchbrochen wird. Und darum geht es auch: Die Diktatur des literarischen Realismus aufzubrechen. Es gibt eben Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit, die auch interessant sind."
    Anthropologische Grenzerfahrung im Spiegel der Literatur - nicht nur Tück ist gespannt auf Lewitscharoff, Hürlimann und Gomringer, die ersten Poetik-Dozenten an der theologischen Fakultät der Uni Wien.