Samstag, 20. April 2024

Archiv


Religion zwischen Emotion und Verstand

Der italienische Philosoph Mario Perniola lehrt in Rom mit den Schwerpunkten Kunsttheorie und Ästhetik. Seine Schriften befassen sich mit Avantgarde, der Kritischen Theorie und der Postmoderne. Nun liegt seine Studie "Vom katholischen Fühlen" auf Deutsch vor.

Von Thomas Palzer | 09.09.2013
    Vermutlich noch nie in der Geschichte zuvor haben sich der Einzelne und die Gesellschaft so sehr um die Gesundheit gekümmert. Wir sind vitalistisch gestimmt, und wer daran zweifelt, soll sich die Scharen an Joggern und Walkern vergegenwärtigen, denen er an einem schönen Wochentag gewöhnlich in geeignetem Gelände begegnet. Oder an den Drang zur Perfektion und Vollkommenheit, der in immer stärkerem Maß medizinische Forschung und Dienstleistung bestimmt. Für uns ist das Leben das höchste Gut – einfach, weil uns unsere subjektive Befindlichkeit mehr bedeutet als die "Welt" da draußen. Die Ursache dafür liegt in der Reformation, die uns nicht in die Welt, sondern in unser Selbst geworfen hat.

    Um die Rückgewinnung von Welt geht es dem italienischen, in Rom lehrenden Philosophen Mario Perniola in seiner Studie "Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion". Denn nach seiner Ansicht gründet die Moderne in einer grundsätzlichen Verkennung der Welt, die die Subjektivität des Individuums in den Vordergrund rückt und damit beiträgt zu Sektenwesen und Fanatismus. Anders das katholische oder rituelle Fühlen, wie Perniola es nennt, das er versteht ...

    "... als Übereinstimmung und Mitarbeit an einem historischen Prozess (auch "Wille Gottes" genannt), der sich immer rätselhaft und vieldeutig ausnimmt."

    Mit anderen Worten: Nach Perniola berücksichtigt das katholische Fühlen die Welt und ihre Dynamik.

    Wachsender Wirklichkeitsverlust
    Dass die Gegenwart mit wachsendem Wirklichkeits- und Weltverlust konfrontiert ist, hat Hannah Arendt gezeigt, auf deren Diagnosen sich der italienische Philosoph beruft. In der Literatur beklagt man ganz folgerichtig Erfahrungsarmut.

    Seit dem 17. Jahrhundert – seit Francis Bacon und René Descartes – haben wir es nicht mehr mit der Natur zu tun, sondern mit einer hypothetischen Natur - mit einer Natur, die laborförmig ist, zugeschnitten auf das Experiment. Seitdem produzieren wir die Phänomene und Prozesse, die wir zu beobachten wünschen. Mit anderen Worten: Unseren Sinnen misstrauend, haben wir die Wirklichkeit in den Verstand verlegt.

    Aber das ist noch nicht alles. Mit dem, ein Jahrhundert später im protestantischen Deutschland herausgebildeten, Aufrichtigkeitsprinzip wird Religion zu einer Privatsache umgemünzt, zu etwas, was einer glaubt oder eben nicht glaubt. Religion ist nun nach innen, ins subjektive Fühlen verlegt. Beides hat dramatische Folgen.

    Denn die Verlagerung der Welt in das Innere des Menschen, in seinen Verstand und sein Gefühl, macht Max Weber zufolge so etwas wie den Kapitalismus mitsamt seiner unglaublich rücksichtlosen technischen Effizienz überhaupt erst möglich – eben zu dem Preis, dass "Welt und Weltlichkeit ihm zum Opfer gebracht werden". Man kann auch Naturzerstörung dazu sagen.

    "Wenn die Mondialisierung als eine Ausweitung der emotionalen und affektiven Kategorien der im 'Von-innen-Fühlen' gegründeten Moderne auf die gesamte Menschheit gedacht wird, vollzieht sich damit lediglich ein letzter Schritt auf die Zerstörung der 'gemeinsamen Welt' zu."

    So Mario Perniola. Die Zerstörung der gemeinsamen Welt, das heißt der menschlichen Welt, ist jener merkwürdigen Paradoxie geschuldet, bei der die Produktion aufs Äußerste rationalisiert wird, um der Befriedigung völlig irrationaler Bedürfnisse zu dienen. Dem stellt der italienische Philosoph die katholische Rationalität gegenüber, die den einzigen ...

    "... wirklichen Widerstand gegen die technisch opportunistische Rationalität der Moderne mit ihrem ikonoklastischen, kontraktualisischen und vitalistisch unmittelbaren Wesen darstellt."

    Plädoyer für eine Art katholische Stoa
    Anders gesagt, äußert sich katholische Rationalität in Geduld, Ausdauer und Tätigsein, in einer Komplizenschaft mit der Erde – einem Tätigsein, das nicht auf Effizienz und Unterwerfung abzielt, sondern auf aktive, handelnde Kontemplation. Man könnte auch sagen, dass Perniola für eine Art katholische Stoa plädiert, oder, noch einmal anders gewendet, für eine katholisch geläuterte Partei der Grünen.

    Mit dem Begriff von der katholischen Rationalität folgt der Philosoph Carl Schmitt, der in dem kleinen Essay "Römischer Katholizismus und politische Form" aus dem Jahr 1923 zwischen einer Aktiengesellschaft als typischem Produkt der zeitgenössischen Gesellschaft und der Kirche als juristischer Person unterscheidet. Die Aktiengesellschaft ist ein Rechnungsmodus, die Kirche dagegen repräsentiert Christus, das heißt die Tatsache, dass das, was die Menschen verbindet, nicht der Sieg ist, sondern der Verlust. Schmitt schreibt, dass der Stellvertreter Christi ...

    "... nicht der Funktionär und Kommissar des republikanischen Denkens (ist) und seine Würde nicht unpersönlich wie die des modernen Beamtem, sondern sein Amt geht, in ununterbrochener Kette, auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi zurück. In solchen Distinktionen liegt die rationale Schöpferkraft und zugleich die Humanität des Katholizismus. Sie bleibt im Menschlich-Geistigen; ohne das irrationale Dunkel des Menschlichen ans Licht zu zerren, gibt sie ihm eine Richtung. Sie gibt nicht, wie der ökonomisch-technische Rationalismus, Rezepte zur Manipulation der Materie."

    Die gemeinsame Welt wird zerstört einfach deshalb, weil seit der Reformation allem Spirituellen der Vorrang gegeben wird gegenüber dem Körperlichen, dem Inneren gegenüber dem Äußeren, dem Leben gegenüber der Form, der Absicht gegenüber der Tat. Carl Schmitt spricht von einem "antirömischen Affekt", der dem Katholizismus, das heißt dem römisch katholischen Fühlen, gern einen gravierenden Mangel an Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und Authentizität vorwirft. Dabei ist gerade die Funktion der Repräsentation das Entscheidende. Sie erlöst von dem protestantischen Elend, das einem aufträgt, immer und nur man selbst zu sein. Von innen fühlen, das ist nach Perniola protestantisch, von außen fühlen katholisch. Und nur wer von außen fühlt vermag die Differenz der Welt, ihre grundlose Wirklichkeit, wirklich zu empfinden: Die Differenz der Welt ...

    "... ist eng an ihre Körperlichkeit gebunden, also an die Tatsache, dass sie eine Dimension enthält, die sich auf keine Idee, keinen Begriff, keinen Gedanken und keine Bedeutung zurückführen lässt. Der Ritus impliziert genau diese Verwurzelung in der Körperlichkeit, die sich jeder Theoretisierung als opak, kontingent, unzugänglich entzieht. Das rituelle Fühlen meint dagegen ein 'Erstaunen des Verstandes' im Anblick der Welt."

    Nicht zuletzt zielt Perniola damit auf jene Theorien, die es ablehnen, ein Außerhalb der Sprache anzuerkennen – und damit eine nichtmenschliche Wirklichkeit, die dem permanenten kartesischen Verdacht, unaufrichtig und betrügerisch zu sein, entzogen bleibt. Unter dem Diktat des sogenannten Anthropozäns verdampft alles zu einer Frage der Geltung. Wenn man die Wirklichkeit mit der Theorie verwechselt, wird Wirklichkeit entweder – wie beim Naturalismus - in Zahlenverhältnisse aufgelöst oder – wie beim Dekonstruktivismus und seinen Ablegern - in Sprachverhältnisse.

    Eine Antwort auf den endlosen Bedeutungsaufschub versuchte vor einem guten Jahrzehnt der sogenannte "Feuilletonkatholizismus" zu geben, der von Martin Mosebachs 2002 erschienenen "Häresie der Formlosigkeit" wenn nicht angestoßen, so doch zumindest populär gemacht worden ist. Seitdem wissen wir von einem Milieu sogenannter katholischer Atheisten – von Menschen, für welche die Frage nach Gott nicht so definitiv erledigt ist wie beispielsweise die nach Feudalherrschaft oder Leibeigenschaft.

    Der Unglaube ist unsicherer geworden
    Die katholischen Atheisten, die sich an keine Konfession gebunden fühlen, reagieren auf das Paradox, dass man noch vor wenigen Jahrzehnten in Westeuropa mit dem Absterben der Religionen gerechnet hat, während sich inzwischen gezeigt hat, dass der Glaube zwar nicht sicherer geworden ist, wohl aber der Unglaube unsicherer. Und man verachtet in diesen Kreisen den Protestantismus, weil dieser Religion durch Ethik ersetzt hat – also durch subjektives Fühlen und Mitfühlen.

    Diesem Milieu des katholischen Atheismus zurechnen muss man auch den Philosophen Mario Perniola. In der Vorbemerkung schreibt der:

    "Mir scheint es in der Tat einer Verarmung der Katholizität als solcher gleichzukommen, das Katholischsein davon abhängig zu machen, dass jemand einer Orthodoxie, einem als unfehlbar ausgegebenen, doktrinären System anhängt, und insofern neige ich doch eher dazu, den Wesenskern der Katholizität weniger im Glauben, als vielmehr im Fühlen, nicht im Einverständnis mit der Doktrin, sondern in der Möglichkeit einer spezifischen, durchaus universalisierbaren Erfahrung auszumachen."

    Katholisches Fühlen meint für Perniola rituelles Fühlen, Distanzsetzung im Umgang mit der eigenen Subjektivität, und das sei, worauf er sogleich hinweist, ein Tun und kein Denken.

    "Sehr richtig ist auch schon angemerkt worden, dass Ritus Aufmerksamkeit schenken und Differenz behaupten, 'Raum nehmen und Zeit machen', 'den Dingen der Welt nahe stehen, ohne ihnen Gewalt anzutun' heißt."

    Das spezifische Element des katholischen Fühlens liegt für Mario Perniola in der"Ent-haltung in der Erfahrung der Welt" – also in der Enthaltung von allen subjektiven Gemütsbewegungen. Man muss von sich absehen, um die Welt würdigen zu können, muss sich selbst anschauen mit Augen, die weder Dir noch mir gehören. Das sei zwar eine losgelöste, aber keine passive Erfahrung. Denn sie liegt nicht im subjektiven Fühlen des Protestantismus, das sich alles zu eigen macht und damit zu seinem Eigenen, sondern in einem "unbeteiligten Fühlen", in einem Fühlen, das der Differenz der Welt Respekt bezeugt.

    Handelnde Kontemplation zählt also zur katholischen Sensibilität – sie ist das Gegenteil der modernen Projektualität, die unentwegt berechnet, vorausrechnet und plant und damit die Gegenwart gegenüber einer verheißenen Zukunft radikal abwertet.

    "Wenn am Ende eine erhoffte Sache wirklich eintritt, erstrahlt immer etwas Unverständliches, etwas, das sich nicht auf unsere vorherigen Annahmen und/oder vormaligen Projekte eingrenzen lässt. Die Aufmerksamkeit, die sich auf diesen seltsamen Glanz der erfüllten Hoffnung richtet, bildet einen spezifischen Charakterzug des römisch katholischen Fühlens und steht von daher in denkbar größtem Abstand zu Selbsttäuschung, Eschatologie und Apokalypse."

    Auslagerung des religiösen Gefühls
    Der Katholizismus lagert das religiöse Gefühl in die Dimension des Rituellen aus, des Zeremoniellen und Institutionellen – vergleichbar etwa mit gewissen orientalischen Religionen, die den Wind durch die Gebetsmühlen fahren und also repräsentativ für die Gläubigen beten lassen, statt den Gläubigen selbst mit mahnenden Appellen zu behelligen. Diese Auslagerung des religiösen Gefühls vom Inneren des Subjekts in die rituelle Erfahrung hat den unschlagbaren Vorteil, dass sie nicht exkludiert, sondern jedem zugänglich ist - ganz unabhängig gerade eben davon, was einer glaubt oder nicht glaubt. Protestantismus und erst recht der universelle Deismus dagegen neigen zum Opportunismus, dazu, es allen recht zu machen.

    Das eben ist die Pointe an Perniolas tiefschürfender und erhellender Studie: dass nicht der Katholizismus, wie es gewöhnlich die Spatzen von den Dächern pfeifen, scheinheilig ist, sondern ein Aufrichtigkeitsprinzip, welches das eigene Selbst zum Maßstab nimmt.

    Mario Perniola: Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion
    Aus dem Italienischen von Sabine Schneider
    Berlin 2013, Matthes & Seitz Verlag
    183 Seiten, 26,90 Euro