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Religionsfreie Erziehung
Adams Urknall – Was Grundschüler über die Schöpfung lernen

"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde" - welche Rolle soll diese biblische Schöpfungsgeschichte in der Grundschule spielen? Säkular eingestellte Pädagogen finden, das deutsche Bildungssystem sei zu stark religiös geprägt. Viele Lehrpläne sehen die Evolutionstheorie erst in der neunten Klasse vor. Eine Gruppe von Didaktikern will jetzt die Evolution in die Grundschule bringen.

Von Rainer Brandes | 23.02.2016
    In der Ausstellung "ROOTS / Wurzeln der Menschheit" laufen zwei jugendliche Besucher am Donnerstag (06.07.2006) im Rheinischen LandesMuseum in Bonn an einer Plakatwand vorbei, die den Evolutionsverlauf zum Homo Sapiens beschreibt.
    Evolutionstheorie statt religionsgeprägte Schöpfungsgeschichte - religionsfreie Erziehung in der Grundschule (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Kein Kind in Deutschland muss am Religionsunterricht teilnehmen, auch wenn das Fach in den meisten Bundesländern ordentliches Lehrfach ist. Man kann sein Kind abmelden. Auf den ersten Blick hat also jeder die Möglichkeit, sein Kind religionsfrei zu erziehen. Tatsächlich aber machen säkular eingestellte Menschen die Erfahrung, dass es so einfach nicht ist. Ulrike von Chossy ist Diplom-Sozialpädagogin und leitet eine humanistische Grundschule im bayerischen Fürth. Ihre Schule hat sich einer religionsfreien Erziehung verschrieben. Sie sagt, schon im Kindergarten werde das Recht, nicht religiös zu sein, nicht respektiert.
    "Wenn Sie mal in Bayern gucken in den Bildungsplan, dann ist die Ehrfurcht vor Gott schon eines der Bildungsziele. Also, ich hab' das schon mehrfach erlebt, dass sich Eltern auch beklagt haben, dass ihr Kind dann vor dem Essen beten muss. Und wenn die Pädagogen darauf angesprochen werden, sagen sie, das steht im bayerischen Bildungsplan ja auch drin, und dann muss sich so ein Kind eben auch mal der breiten Masse unterordnen. Das ist nicht Pluralität. Das ist Diskriminierung, eindeutig!"
    Das ist nicht nur in Bayern so. Auch die Bildungspläne anderer westdeutscher Bundesländer geben der religiösen Erziehung breiten Raum. Dabei geht es nicht nur um das Kennenlernen verschiedener Religionen, sondern explizit auch um die Entfaltung einer eigenen Glaubenspraxis. So heißt es zum Beispiel in den Grundsätzen für frühkindliche Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen:
    "Kindern wird die Möglichkeit gegeben, durch die Vermittlung der Botschaft Gottes innere Stärke und Zuversicht zu gewinnen."
    In den meisten ostdeutschen Bundesländern, wo die kirchliche Bindung deutlich geringer ist, sind die Bildungspläne neutraler formuliert. Im sächsischen Bildungsplan beispielsweise heißt es:
    "Die Spuren der verschiedenen religiösen Traditionen [...] können zum Gegenstand von gemeinsamen Erkundungen werden. Daneben existieren vielfältige nicht-religiös geprägte philosophische Traditionen, die eine Bearbeitung weltanschaulicher Themen ermöglichen."
    Fritz Osterwalder ist emeritierter Professor für Pädagogik an der Universität Bern. Er hat sich in seinen Forschungen mit der Entstehungsgeschichte der Pädagogik befasst. Dass zumindest in Westdeutschland die Kirchen bis heute so großen Einfluss auf das Erziehungswesen haben, das liegt für ihn auch daran, dass sich die Pädagogik historisch gesehen aus der Theologie entwickelt habe.
    "Erziehung und Erziehungswesen sind über Jahrhunderte, wenn nicht sogar über Jahrtausende, von der Kirche geprägt. Das gibt ihnen historisch einen großen Einfluss, aber auch heute haben viele Eltern die Vorstellung, kirchliche Institutionen seien eigentlich die Spezialisten für Erziehung."
    Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Erziehungspraxis habe sich die Pädagogik bis heute nicht völlig von der Theologie gelöst.
    "Ich würde sagen, ein Teil von der Wissenschaft Pädagogik hat sich nicht von dieser Herkunft emanzipiert. Das heißt, sie gibt sich als weltlich, transportiert aber religiöse Vorstellungen."
    Osterwalders Thesen sind in der Pädagogik zwar durchaus umstritten. Dennoch lassen sich einige Belege für seine Kritik finden. Viele Bildungs- und Lehrpläne schreiben fest, die Vermittlung von Werten sei nicht möglich ohne die Vermittlung religiöser Vorstellungen. Die Grundschulleiterin und Sozialpädagogin Ulrike von Chossy widerspricht dem:
    "Also, der Hauptunterschied ist wohl: Sind Werte gesetzt, also sind sie gottgegeben, einer höheren Macht geschuldet, oder entstehen sie in diskursiven Prozessen und sind letztendlich auch Ergebnis evolutionärer Prozesse."
    Auch Fritz Osterwalder kritisiert: Eine Rückbindung von Werten an religiöse Überzeugungen sei mit einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht vereinbar. Kinder müssten schon früh lernen, dass Werte verhandelbar seien.
    "Allgemeingültige moralische Vorstellungen werden in einer Demokratie im Allgemeinen bestimmt durch die Bürgerinnen und Bürger, die festlegen: das soll gelten, das soll nicht gelten. Die Kinder lernen: Diese moralischen Vorstellungen sind historisch gewachsen, sind historisch entstanden und sind historisch notwendig, um die Gesellschaft, wie wir sie gern haben, aufrechtzuerhalten."
    Theologen wenden allerdings ein, dass die moderne Religionspädagogik ihren absoluten Wahrheitsanspruch längst aufgegeben habe. Auch religiös begründete Werte würden heute im Religionsunterricht als verhandelbar dargestellt. Dennoch sei es wichtig, Kinder an Religionen heranzuführen, weil Spiritualität zur menschlichen Natur gehöre. Dies müsse eine ganzheitliche Erziehung berücksichtigen. Ulrike von Chossy will das nicht gelten lassen.
    "Es gibt derzeit ja einige Organisationen, die versuchen, Philosophieren für Kinder breit anzubieten, und da gibt es auch Literatur dazu. Da habe ich vor kurzem ein Buch aufgeschlagen und da stand dann drin: Die Kinder sollen darüber philosophieren, wo die Seele hingeht. Da ist schon die Fragestellung aus einer Wahrheit heraus formuliert, denn wenn wir mit den Kindern philosophieren würden, würden wir wohl eher fragen, was denn so was wie eine Seele sein kann, was das bedeutet, für was das symbolisch steht, ob es so was organisch überhaupt gibt und was es denn sonst bedeuten könnte."
    Insgesamt sehen religionsfrei orientierte Pädagogen ein Missverhältnis in den Lehrplänen zwischen religiösen und naturwissenschaftlichen Weltdeutungen – vor allem in der Grundschule. Die Kritik entzündet sich unter anderem daran, dass viele Kinder im Religionsunterricht religiöse Schöpfungsgeschichten kennenlernen. Die Evolutionslehre aber steht frühestens in der neunten Klasse auf dem Lehrplan. Eine Gruppe von Pädagogen und Naturwissenschaftlern will das jetzt ändern. Sie möchte Lehrmaterial zur Evolution in die Grundschulen bringen. Evokids nennt sich das Projekt. Es wird geleitet von Dittmar Graf, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Gießen.
    "Also, ich sehe da durchaus ein Missverhältnis, weil in der Tat die Art und Weise, wie sich das Leben historisch entwickelt hat, wie es wirklich war, soweit man das heute weiß, eben in der Grundschule nicht vorkommt. Es kommen allenfalls Schöpfungsmythen vor, Geschichten über die Art und Weise, wie es passiert sein könnte, oder wie man vor 3000 Jahren gedacht hat, dass es passiert sein könnte. Da sehe ich schon die Aufgabe an der Schule, dass man alle notwendigen Informationen zur Verfügung stellt. Und zu diesen Informationen gehört aus meiner Sicht in zentraler Art und Weise, natürlich die Information, wie sich das Leben entwickelt hat."
    In wenigen Wochen wird das Evokids-Projekt die ersten Lehrmaterialsammlungen an Schulen ausliefern. Damit können die Kinder dann spielerisch erfahren, wie sich die verschiedenen Arten entwickelt haben. Dittmar Graf und seine Mitstreiter wollen damit beweisen, dass es möglich ist, bereits Kindern der dritten Klasse die Evolution verständlich zu machen. Bisher waren die meisten Didaktiker nämlich der Auffassung, dass die Evolution ein zu komplexes Thema für die Grundschule sei. Das langfristige Ziel von Dittmar Graf ist es, die Evolution verpflichtend in die Grundschullehrpläne zu bringen – auch um Schüler dazu anzuregen, über das Verhältnis von Glauben und Naturwissenschaft nachzudenken. Dabei geht es ihm nicht darum, religiösen Schülern ihren Glauben auszureden.
    "Es führt hoffentlich dazu, dass man anfängt, eigenständige Gedanken dazu zu machen. Zu welchem Ergebnis das führt, das zu beeinflussen, ist sicher nicht Aufgabe der Schule."