"Guckt euch mal das Bild an. Was fällt euch dazu ein?"
Alevitischer Religionsunterricht an einer Berliner Grundschule. Die Lehrerin projiziert ein Bild an eine Leinwand. Darauf zu sehen: ein Mann mit einem langen weißen Bart. Auf seinem Schoß sitzen ein Löwe und eine Gazelle. Die Kinder fangen an, das Bild zu beschreiben, und ihre Beschreibungen werden für die Besucher übersetzt. Denn mehr als die Hälfte der Schüler in dem überfüllten Klassenraum sind heute Gäste aus der Türkei.
Sie haben noch nie an einem alevitischen Religionsunterricht teilgenommen. Einer der Besucher ist der 18-jährige Akin Onur, Gymnasiast aus Izmir.
"Es ist sehr schön. In meiner Heimat kann ich in der Schule nichts über meinen Glauben lernen. Hier bin ich zu Gast und besuche alevitischen Religionsunterricht. Die Aleviten müssen sich hier glücklich schätzen. Die Schüler haben auch sichtlich Spaß am Unterricht."
Protest gegen den sunnitischen Unterricht
Den weißbärtigen alten Mann kennen Akin Onur und alle Aleviten. Ein im alevitischen Glauben wichtiger Mystiker aus dem 13. Jahrhundert. Das Bild symbolisiert, dass der Mensch es in der Hand hat, Frieden zu schaffen. Im alevitischen Glauben steht der Mensch im Zentrum. Doch das wird in türkischen Schulen nicht unterrichtet. Es gibt nur sunnitischen Religionsunterricht und der ist Pflicht - auch für alevitische Kinder. Die 14-jährige Nazli Şirin bleibt diesem Fach seit fünf Jahren fern. Und das kostet sie und ihre Familie viel Kraft, sagt sie:
"In Eskişehir wechselten die Leute die Straßenseite, wenn sie uns gesehen haben. Schließlich mussten wir in eine andere Stadt ziehen. Meine Mitschüler wollten mit mir nichts mehr zu tun haben. Ich war ständig übler Nachrede und Beleidigungen ausgesetzt. Sie haben in der Klasse sogar mit Gegenständen nach mir geworfen."
Nazli Şirins Vater hatte jahrelang Prozesse geführt, um in seinem Ausweis die Religionsbezeichnung "Islam" entfernen zu lassen. Das Feld ist nun zwar frei, aber "Alevit" darf er nicht eintragen lassen. Alle Lokalzeitungen berichteten über die Prozesse der Familie; denn solch einen Prozess führt so gut wie nie jemand in der Türkei. Nach ihrem Umzug nach nach Izmir ging Nazlis Protest gegen den sunnitischen Unterricht weiter. Im Herbst kommt sie ins Gymnasium.
"Im Gymnasium gibt es drei Religionsfächer. Alle behandeln aber den Islam. Neben dem allgemeinen Islamunterricht gibt es Fächer über das Leben von Mohammed. Wenn man dem Unterricht fernbleibt, bleibt man sitzen. Wir müssen aber dagegen vorgehen, damit die nachfolgenden Generationen es nicht noch schwerer haben."
Die Eltern der Schüler, die seit einer Woche in Berlin sind, haben gegen den Pflicht-Religionsunterricht bereits letztes Jahr geklagt. Bisher hat es noch aber noch keine Verhandlung gegeben. Am Ende ihres Aufenthalts in Deutschland ziehen die Schüler ein positives Fazit. Der Berlin-Besuch hat sich gelohnt, sagt Nazli Şirin, nicht nur weil sie einen anderen Religionsunterricht erfahren und unterschiedliche Religionen kennengelernt habe:
"Wir haben uns mit Politikern unterhalten und sie gebeten, uns zu unterstützen. Denn die Unterstützung aus Deutschland ist für uns sehr wichtig."