Freitag, 19. April 2024

Archiv

Renaturierung der unteren Havel
Raum für Wildnis und Überschwemmungen

Im Jahr 1996 wurde die untere Havel aus dem Netz der Wasserstraßen herausgenommen und zur Renaturierung freigegeben - unter Federführung des Naturschutzbundes NABU. Natur braucht Zeit: Fast 20 Jahre danach gibt es deutliche Veränderungen in der Region.

Von Johannes Kaiser | 24.06.2015
    Kaum hat der Ausflugsdampfer von der Ufermole des kleinen Städtchens Havelberge an der Elbeeinmündung der Havel abgelegt und ist ein paar hundert Meter den Fluss hinaufgefahren, schon begleiten links und rechts der gut 45 Meter breiten Fahrrinne dichte Schilfrohrdickichte die langsam dahinströmenden Fluten. Soweit das Auge reicht, stehen Wiesen unter Wasser, tummeln sich Gänse, Enten, Schwäne auf kleinen Teichen. Aus dem Röhricht erschallt ein lautstarkes Vogelkonzert.
    "Ein Feuchtgebiet, das ist eine Landschaft, die mindestens ein halbes Jahr unter Wasser steht und genau das macht die Untere Havelniederung aus. Sie ist damit nicht nur das letzte große zusammenhängende Feuchtgebiet im Binnenland des westlichen Europa, sondern es ist auch das bedeutsamste Feuchtgebiet. Hier leben über 1.100 vom Aussterben bedrohte oder stark gefährdete Tier- oder Pflanzensorten."
    Rocco Buchta vom NABU, vom Naturschutzbund Deutschland, leitet das Projekt zur Renaturierung der Unteren Havel. Der Fluss liegt ihm besonders am Herzen, denn er ist hier geboren und aufgewachsen, hat miterlebt, wie Industrieabwässer und große Schubverbände den Fluss in den 70er-Jahren langsam sterben ließen. Umso begeisterter weist er jetzt auf die neu geschaffenen Feuchtgebiete beidseits des Flusses hin.
    Seit die ersten Uferwälle abgetragen, eine Reihe Altarme wieder an die Havel angeschlossen, Deckwerke, also die steinernen Uferbefestigungen, abgebaut wurden, haben zahlreiche Watt- und Wiesenvogelarten die feuchte Landschaft erobert. Biber und Fischotter fühlen sich hier wohl. Die wiedervernässten Flächen sind ein einzigartiges Tierparadies.
    Bislang ist erst ein kleiner Teil der Unteren Havel renaturiert worden. 30 Kilometer sollen bis 2018 wieder in einen naturnahen Zustand versetzt werden. Drei Viertel der Kosten von rund 25 Millionen Euro übernimmt das Bundesamt für Naturschutz. Die Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt tragen zusammen knapp ein Fünftel der Summe und der NABU als allein verantwortlicher Projektleiter steuert 1,6 Millionen aus Spendengeldern hinzu.
    Von der Renaturierung profitiert aber nicht nur die Natur, sondern auch der Hochwasserschutz, insbesondere wenn einige der Deiche wie geplant zurückgesetzt werden.
    "Wir werden auch in diesem Projekt 500 Hektar Überflutungsflächen wieder anbinden. Das sind zwar nur Teilschutzdeiche, also Deiche, die bei einem sehr hohen Hochwasser sowieso überflutet werden, aber diese Überflutungsflächen werden künftig wieder ständig am Abflussgeschehen teilnehmen, dass wir also durchaus im Raum von Rathenau die Hochwasserstände um zehn Zentimeter senken können."
    Damit bekäme auch die Elbe ein riesiges Überflutungsgebiet wieder zurück, denn die Havelniederung liegt so niedrig, dass bei Elbehochwasser die Fluten hier reinströmen können. Damit wird deren Hochwasserwelle gekappt, also entschärft. Zurückversetzte Teilschutzdeiche haben selbst für die Landwirte Vorteile, denn die alten Schöpfwerke, die früher die Wiesen hinten diesen Deichen entwässerten, sind als zu teuer stillgelegt worden. Bei Hochwasser sinkt das Wasser hinter dem Polderdeich dadurch langsamer als vor dem Deich. Der Sauerstoff im Boden wird knapp.
    "Sauerstoffarme Verhältnisse heißt, dass die sogenannten Sauergräser wachsen, Binsen, Seegen. Die will kein Bauer und diese Flächen werden dann ausgelassen und dann wächst da Schilf und dann sind diese wichtigen Flutrinnen, die auch Laichplätze sind für zahlreiche Fische, eigentlich aus der Kulturlandschaft verloren und wenn das Wasser strömt und der Sauerstoff mitkommt, dann wachsen Süßgräser, so was wie zum Beispiel das Rohrglanzgras, und das ist gutes Futter."
    Aus genau diesem Grund haben Biobauern in Brandenburg den Abbau dieser Teildeiche unterstützt. Deren Zustimmung ist dem verantwortlichen Bauherrn, des NABU, sehr wichtig, denn er führt keine einzige Maßnahme ohne die Zustimmung der Bevölkerung durch. Das hat Rocco Buchta viel Überzeugungsarbeit gekostet und manches Bier in Wirtshausdiskussionen. Doch inzwischen steht die ganze Region geschlossen hinter dem Projekt. Es könnte durchaus Vorbildcharakter für andere haben.