Dienstag, 19. März 2024

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René Pollesch am Schauspielhaus Zürich
"Bühne frei für Mick Levcik"

Die verlorene Lebendigkeit des Theaters, die hölzerne Sterilität, die Leere der Worte - darum geht es in René Polleschs "Bühne frei für Mick Levcik". Der Autor und Regisseur zieht dabei alle Register des episch verfremdeten, überzeichnenden Theaters - inklusive aller möglichen Flops und Missgeschicke.

Von Cornelie Ueding | 02.04.2016
    Der Autor und Regisseur Rene Pollesch spricht am 5. Mai 2012 in Berlin zur Verleihung des Theaterpreises.
    Rene Pollesch (dpa / picture alliance / Soeren Stache)
    Der Chor rebelliert, bockig und renitent. Die elf Herren wollen einfach keine alten Frauen spielen – sondern Nazis! Und die Schauspieler fremdeln so spürbar in ihren Kostümen und in ihren Rollen, dass von Anfang an ein amüsiertes Glucksen durchs Parkett geht.
    Dabei soll nichts Geringeres als Brechts geradezu mythisches Zürcher Antigone-Projekt über die Bühne gehen, Ehrfurcht gebietend und wissensbefrachtet. Aber natürlich erleben wir in einem Pollesch-Projekt keine Klassiker-Aufführung, sondern das, was dem Zuschauer sonst verborgen bleibt - den ganz normalen Wahnsinn einer Probe. Kein Hauch von tragisch umwehter Antigone-Erstarrung. René Pollesch erobert das Publikum im Handstreich und erlöst uns mit einer ausgefuchsten Mischung aus Zitatgewittern, arroganten Kenner-Phrasen, Proben-Hysterie und Backstage-Philosophie aus allen Tragödien-Klischees. Doch kommen wunderbarerweise weder die Lehrtheater-Ikone Brecht noch Antigone unter die Räder dieser Anti-Ernsthaftigkeits-Dramaturgie. Ganz ohne Brechstange – aber mit viel Brecht’scher Schlauheit. Schon das angestrengt aktualisierende Vorspiel zwischen Luftschutzkeller und Wohnung im ausgebombten "Berlin. April 1945", wird auf erfrischende Art zum Tribunal über epischen Theoriebombast. Wenn Sophie Rois wie eine barlachartige Holzschnitt-Ikone mit exaltiert raumgreifenden Gesten und bemüht verquetschter Hoftheaterstimme nicht nur Speck und Brot, sondern auch Schlitten, Krücke und ein Kunstbein aus einem liegengebliebenen Mantel zutage fördert, verblasst fast der Schatten der Ahnfrau Helene Weigel. Und auch Caspar Nehers für diese Zürcher Uraufführung nachgebaute, sagenumwobene leere Raumbühne – Brecht müsste zufrieden sein – geht völlig ihrer historischen Aura verlustig: Durchtost von Hetzjagden und Balgereien, notdürftig durch Brückensätze zusammengehalten, von einem wildgewordenen jungen Männerballett paradierend-parodierend aufs imponierendste bespielt – so kommt Leben in diese Stelen-Bude. Und die Protagonisten werden für Momente zu staunenden Komparsen.
    Minutiös vorgeschriebene Gesten für die Schauspieler
    Gut, ab und an gibt man sich noch mal einen Stoß, Antigone, Ismene, Jason treten regelkonform nach Brecht - und mit den dokumentierten minutiös vorgeschriebenen Gesten - auf die Spielfläche. Aber bereits nach ein paar Zeilen Antigone-Text kommt was dazwischen: Eigene Gedanken, schräge Theorien (sollte das ganze ein Inzestdrama sein?), dämliche Assoziationen (die man besser für sich behalten sollte), und immer wieder die hinreißend tiefgründelnde Überlegung:
    "...ein Laut, dass unser Blut gefror: Worum geht es in diesem Stück?"
    Es geht um die verlorene Lebendigkeit des Theaters. Es geht gegen die hölzerne Sterilität und die Kanonisierung des epischen Theaters - und gegen die Leere der Worte. Es geht um Sprache. Sprache, die ausschließlich aus bereits mehrfach Gesagtem, sein Jahrhunderten Wiederholtem und gerade deshalb Wirksamem und immer wieder neu zu Entdeckendem besteht. Sophokles "Antigone" mag an diesem Abend aus der Fassung geraten – man spürt: überleben wird diese renitente Figur dennoch.
    "Es ist ja niemand so gebaut, dass er jetzt gerne stirbt. Und diese größtmögliche Angst vor dem Tod. Und sie hat jede Möglichkeit, Kreons Urteilspruch zu entkommen. Sie ist ja nicht irgendwer. Sie ist Antigone. Sie könnte leugnen und sie wäre aus der Sache raus. Und sie trifft diese unbegreifliche Entscheidung.
    Wie sagt der Chor zu Antigone? Unsere wahre Treue gilt dem Unsagbaren, und die größte Weisheit ist, zu wissen, wann uns diese Treue zwingt, unser Wort zu brechen."
    Dies alles wird in einem so kennerschaftlich authentischen Sound verhandelt, dass man sich für Momente immer wieder in echte Probensituationen mit ihrem Hickhack, ihrem Dauerstress, ihren Erregungen und Anstrengungen - ihrem hilflosen Dogmatismus und ihrer konzeptionssüchtigen Versessenheit und blasierten Besserwisserei versetzt glaubt. Zugleich aber auch so manieriert und nachdenklich, dass man an keiner Stelle dem Irrtum erliegen kann, hier würde bloßer Klamauk auf Kosten des Theaters getrieben. Paradoxerweise ist das genaue Gegenteil der Fall. Pollesch zieht bei diesem Vorgehen nämlich selber alle Register des episch verfremdeten, überzeichnenden Theaters; so stark, so ruppig und zugleich liebevoll, dass daraus eine unprätentiöse Hommage, eine Beschwörung des theatralischen Hier und Jetzt wird - inklusive aller möglichen Flops und Missgeschicke.