Dienstag, 19. März 2024

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Rentenpolitik einer möglichen Jamaika-Koalition
"Vier Jahre, in denen relativ gar nichts passieren wird"

Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell glaubt nicht, dass eine mögliche Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen in der Sozialpolitik viel bewegen würde. Er sagte im Dlf, besonders bei den Themen Rente und Arbeitsmarkt lägen die Positionen der Parteien viel zu weit auseinander.

Stefan Sell im Gespräch mit Birgid Becker | 25.09.2017
    Stefan Sell
    Stefan Sell (dpa / picture alliance / Horst Galuschka)
    Birgid Becker: Wahlnachlese zweiter Teil: das Feld der Sozialpolitik, die Rente, die Sorge vor Altersarmut und - spät im Wahlkampf entdeckt - die Pflege. Das waren Themen, die ja durchaus eine Rolle gespielt haben. Und welche Rolle werden sie spielen bei einer künftigen Bundesregierung? Darüber möchte ich sprechen mit dem Leiter des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz, mit Stefan Sell. Auch Ihnen einen guten Tag.
    Stefan Sell: Guten Tag!
    "Sehr divergierende Vorstellungen" der Parteien bei der Rente
    Becker: Die Rolle der Sozialpolitik in den kommenden vier Jahren – zunächst auch auf die Gefahr hin, dass das naiv klingt. Aber lässt sich mit Sozialpolitik - und damit ist ja nicht das Verteilen von Geldgeschenken alleine gemeint -, lässt sich damit ein Beitrag leisten gegen den Rechtsruck oder gegen das Abdriften nach rechts?
    Sell: Ja, ein bestimmter Beitrag. Wenn man den Wahlforschern folgt, dann sind ja ein nicht geringer Teil der AfD-Wähler beispielsweise weniger wegen einer inhaltlichen Überzeugung zur Wahlurne gegangen und haben diese Partei gewählt, sondern wegen einer generellen Verunsicherung, auch Abstiegsängste, ja eine Sorge vor der eigenen sozialen Lage. Gerade in den neuen Bundesländern, in Ostdeutschland spielte das eine sehr große Rolle. Daneben gibt es natürlich auch kulturelle Wertgeschichten, die jetzt mit Sozialpolitik als solchem natürlich nur sehr eingeschränkt adressiert werden können.
    Becker: Gucken wir auf die wichtigsten Themenfelder: die Rente. Die Union hat den Plan, eine Rentenkommission einzurichten. Die Grünen liebäugeln mit der Garantierente. Die FDP mit mehr Eigenvorsorge. Wie lässt sich das rentenpolitisch angehen, wenn die Positionen doch recht weit auseinander liegen?
    Sell: Bezogen auf die wirklich sehr divergierenden rentenpolitischen Vorstellungen der Parteien, glaube ich, werden wir, sollte es zu dieser Koalition kommen, vier Jahre erleben, in denen relativ gar nichts passieren wird. Die Union hat ja die Marschrichtung schon vorgegeben. Man sieht bis 2030 das bestehende Rentensystem mit seinem weiter absinkenden Rentenniveau als ausreichend an, wolle nach der Wahl jetzt eine Kommission einsetzen, die sich dann mit der Zukunft beschäftigt. So wird das auch laufen. Die grüne Forderung nach einer Garantierente, wenn Sie mindestens 30 Versicherungsjahre haben, sollen Sie 850 Euro aufgestockt bekommen aus der Rentenversicherung, nicht aus der Sozialhilfe, das wird sicherlich in der Union, aber vor allem in der FDP auf größte Widerstände stoßen. So wird man versuchen, das ganze Thema zu externalisieren in diese Kommission, die dann möglichst lange sich den Kopf darüber zerbrechen soll.
    Problem Altersarmut "nicht ausreichend erkannt"
    Becker: Und das Großthema Verhinderung von Altersarmut, das findet dann nicht statt?
    Sell: Ja, das wird ein Stück weit auf die lange Bank geschoben, und das wird sich, Bezug nehmend auf Ihre erste Frage, möglicherweise bitter rächen vor dem Hintergrund, dass die AfD beispielsweise in Ostdeutschland sehr große Erfolge erzielt hat. Wir werden bereits in den nächsten Jahren sehen, dort wird die ganze Generation mit zerlöcherten Erwerbsbiografien in die Rente gehen müssen in Ostdeutschland, und da werden ganz viele sein, die nur eine Rente bekommen unterhalb der Grundsicherung und dann zu Aufstockern werden. Das wird ein großes Thema werden vor Ort und bei den Menschen. Aber ich glaube, ich habe nicht den Eindruck, dass das bisher wirklich in der Dramatik, die in der Mechanik der Rentenpolitik angelegt ist, die wir bisher hatten, dass das schon ausreichend erkannt wurde.
    Becker: Was in der letzten Wahlkampfphase ja auf einmal ganz neue Aufmerksamkeit bekam, das war das Thema Pflege. Bei der Kanzlerin sogar mit dem Versprechen, mehr Geld für Pflegekräfte. Ziehen Grüne und FDP da voraussichtlich mit, wenn es dann womöglich auch um höhere Beiträge geht?
    Sell: Nein, das glaube ich nicht. Auch hier haben die Grünen ja eher - jedenfalls bisher in der Opposition - eine Position vertreten, die eher zur SPD, zu den Linken passt. Sie plädieren für eine Bürgerversicherung, also für eine andere Finanzierung. Übrigens auch in der Rente mittelfristig wollen sie das einführen. Das ist mit der FDP überhaupt nicht zu machen. Und die Thematisierung des Themas Pflege im letzten Moment des Wahlkampfs muss man wirklich leider eher als Schaumschlägerei ansehen, denn die Pflege ist ein sehr kompliziertes System. Reden wir über Krankenhauspflege oder Altenpflege. In der Altenpflege haben wir mehrere Finanzierungsträger, nicht nur die Pflegeversicherung, auch die Privathaushalte. Auch hier hat die Union wieder so eine Strategie vorgegeben, man wolle jetzt eine konzertierte "Aktion Pflege" einrichten nach der Wahl. Das ist so ein ähnlicher Mechanismus wie die Rentenkommission. Man delegiert das dann nach unten in Gremien, die sich darüber Gedanken machen sollen.
    "Riesengroßes Problem" für die Grünen beim Thema Arbeitsmarkt
    Becker: Wenn wir jetzt Schwarz-Gelb-Grün noch mal überblicken, wo sind denn die Gräben auf dem Feld der Sozialpolitik besonders tief? Wo hätte einer dieser drei Beteiligten besonders viel aufzugeben?
    Sell: Na ja. Ich glaube, dass die Grünen ein riesengroßes Problem haben. Wir haben ja noch einen anderen Bereich: Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik. Denken Sie an so Themen wie Leiharbeit, Werkverträge, Mindestlohn. Da waren die Grünen bisher in der Opposition sehr aktiv und kritisch gegenüber der Großen Koalition. Da geht aber seitens der Union wie auch der FDP die Richtung ganz klar: Flexibilisierung, Deregulierung, alles Dinge, die bisher von den Grünen abgelehnt worden sind. Die Grünen stehen aber vor dem Dilemma, dass sie als kleinster Partner in einer solchen Koalition Prioritäten setzen müssen. Sie können nicht alles bekommen. So wie es derzeit aussieht, steht an erster Stelle für die Grünen auch zur Gesichtswahrung der große Bereich Umwelt-Klima. Ich könnte mir vorstellen, dass die klassischen sozialpolitischen Themen, auch wenn es bei den Grünen dort viele Anhänger gibt, am Ende ein Stück weit hinten runterfallen müssen, damit sie bei ihrem Umwelt- und Klimathema irgendwo ein paar Punkte durchbekommen.
    Becker: Was dann eine Oppositionschance – ganz kurz zum Schluss – für die SPD wäre.
    Sell: Das wäre im Prinzip eine Chance. Wir dürfen aber nicht vergessen: Sollte Frau Nahles wirklich Fraktionsvorsitzende werden, wie heute angekündigt, dann ist jemand, der die letzten vier Jahre die Sozialpolitik gestaltet und verantwortet hat, dann in der Oppositionsrolle. Und das wird zumindest in der ersten Zeit bei manchen Punkten sehr schwierig sein, da radikalere Positionen zu vertreten.
    Becker: Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell war das. Danke fürs Gespräch, einen schönen Abend.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.