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Reportage
Klettern mit Multiple Sklerose

Gefühlsstörungen, Lähmungen, Kraftlosigkeit – Multiple Sklerose geht mit Symptomen einher, die auf den ersten Blick eines ausschließen: sportliche Aktivität. Dabei wissen Mediziner seit langem, dass Laufen und Schwimmen, Fahrradfahren und Gymnastik eine positive Wirkung auf die Entwicklung der Krankheit haben. Aber zählt Klettern an senkrechten Wänden auch dazu?

Von Mirko Smiljanic | 16.06.2015
    Bottrop in Nordrhein-Westfalen, Kletterarena 79. Eine Gruppe Männer und Frauen im Alter zwischen Mitte 20 und Ende 50 steht vor 15 Meter steil nach oben ragenden Wänden und bereiten sich zu zweit auf Klettertouren vor.
    "Wir gehen an die Wand, wo sie rein will und dann schicke ich sie mal hoch.".
    Anna Kleve, Trainerin bei "Abenteuer Aufwind", einem Projekt des Bildungswerks im Landessportbund NRW, das Multiple-Sklerose-Patienten Lust aufs Klettern machen möchte
    Melanie Gollanek leidet seit fünf Jahren an MS, außerdem ist sie sehbehindert. Den Weg zur Kletterwand findet sie nur mit ihrer Trainerin, den Weg in der Wand meistert sie alleine.
    "So, jetzt sind wir an der Route, jetzt wird Melanie erst einmal den Knoten ins Seil machen, ein Achtknoten."
    Denn ohne Sicherung geht gar nichts.
    "Ich habe einen Sicherungsautomaten, ein Smart, einen Halbautomaten, den habe ich eingelegt. Der Karabiner ist zu. Dann macht man einen Partnercheck, dann guck ich bei ihr, ob sie den Knoten richtig hat, und sie guckt, ob ich den Karabiner zu habe und richtig eingelegt hab, und dann kann es losgehen."
    Rote, blaue, grüne Griffe und Tritte wohin man schaut, bei leichten Touren sind sie groß und häufig an der Wand verschraubt, bei den schwierigen klein und selten. Kraft und Gleichgewicht sind fürs Klettern erforderlich, vor allem aber ein gutes Gefühl zu sich und zum sichernden Partner.
    "Vertrauen muss man haben - zu sich selber und zu demjenigen, der unten steht, das ist ganz wichtig. Melanie hat sich jetzt doch für die rote 4 statt für die blaue 4 entschieden, also ein bisschen schwerer. Ehrgeizig ist sie, und jetzt geht sie in der Ecke schön hoch mit Griffen und stützt sich auch schön an die Wand."
    Nach einer Minute hat Melanie Gollanek die ersten drei Meter geschafft. Vorsichtig sucht die freie Hand den nächste Griff, noch vorsichtiger ihre Füße sicheren Stand auf einem der teilweise winzigen Tritt.
    "Wenn man überlegt, mit den Füßen läuft man den ganzen Tag, da steht man gut drauf, auf den Händen läuft man nicht so lange: So ist das auch beim Klettern, Hauptsache man steht gut und sortiert dann die Hände."
    Was vor allem für Neulinge nicht einfach ist, aber davon haben sich die Klettertrainer in Bottrop ohnehin verabschiedet: Sie setzen auf Anstrengung.
    "Man versucht halt, immer ein bisschen weiter zu gehen, aus der Komfortzone raus, weil, wenn man immer nur das macht, was man macht, wird es nicht besser, bei der Krankheit eher schlechter, und dann schicken wir die Leute auch mal in Routen, die ein bisschen schwerer sind."
    Die Anstrengung lohne sich auf jeden Fall, so Anna Kleve: "Man lernt vor allem Beweglichkeit. Wir haben Leute, die Spastiken haben, die die Beine vor allem nicht so gut bewegen können, die anfangs sehr viel Probleme hatten, die von Mal zu Mal beweglicher werden, und dann auch mehr Kraft haben. Andererseits gibt das Klettern auch Selbstvertrauen, es ist natürlich sehr viel schöner, zu sagen, ich gehe zum Klettern als zur Physiotherapie oder zur Krankengymnastik."
    Mittlerweile hat Melanie Gollanek die Fünfzehn-Meter-Marke erreicht. Mit der Hand gibt sie ein Zeichen, langsam lässt ihre Trainerin sie nach unten gleiten, bis sie wieder festen Boden unter den Füßen hat,...
    "Ja, super Melanie, dieses Gefühl, wenn man oben angekommen ist, ist unbeschreiblich. Also von daher, es lohnt sich alles!"