Donnerstag, 25. April 2024

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Residenztheater München
Tina Lanik inszeniert Tschechows "Drei Schwestern"

"Nach Moskau, nach Moskau!", sehnen sich die drei Schwestern in Anton Tschechows Stück "Drei Schwestern", 1901 in Moskau uraufgeführt. Dabei leben die drei in einer arkadischen Oase, einem paradiesisch anmutenden Garten, nur leider nicht in der Hauptstadt, sondern irgendwo in der langweiligen Provinz. Die bei Elmar Goerden und Luc Bondy in Schule gegangene Regisseurin Tina Lanik, Jahrgang '74, hat nun "Drei Schwestern" von Anton Tschechow in München inszeniert, am Residenztheater, mit toller Besetzung.

Von Rosemarie Bölts | 26.03.2015
    Das Denkmal von Anton Tschechow im südrussischen Taganrog.
    Das Denkmal von Anton Tschechow im südrussischen Taganrog. (Imago Stock & People)
    Das war ja von Anfang an klar, dass das mit Moskau, diesem Sehnsuchtsort der großen, weiten Welt, nichts wird. Da müssten sich die drei Schwestern ja auf den Weg machen, raus aus ihren gesellschaftskonformen Korsetts, weg von ihren tragenden Stützen, die da meinen: Haltung, Benimm, Kleiderordnung. Und wehe, da bricht so ein hergelaufenes Flittchen aus dem einfachen Volk wie Natascha, die mit ihrem Glitzerkleid direkt aus der Heidi-Klum-Casting-Show zu kommen scheint, in das vornehme Haus ein und angelt sich den Bruder, Andrej, dieser "Jetzt ist aber mal gut"-Schwächling, der Kuchen backt und am liebsten Geige spielt:
    "Das ist Andrej, unser Bruder. Der ist der Wissenschaftler, er wird bestimmt Professor werden. Ich glaube, er hat sich verliebt. Ist jemand von hier. Wahrscheinlich kommt sie heute Abend. Also, schon wie sie sich anzieht, nicht hässlich oder altmodisch, sondern einfach gruselig!"
    Andrej wird sie trotzdem heiraten und nicht als Professor in Moskau, sondern in der Kreisverwaltung landen. Olga, die Älteste, verbittert als unverheiratete Studienrätin, spielt die Vernünftige. Mascha darf in ihrem schwarzen Witwenkleid als frustrierte Ehefrau eine heimliche Affäre mit einem abgehalfterten, verheirateten Major haben, und Irina, die Jüngste, unbekümmert in ihrem kurzen Sommerkleidchen und grenzenlos naiv, schwimmt willig mit in den Untergang dieser dekadenten Adelsgesellschaft Anfang des letzten Jahrhunderts:
    "Ja, wie leben wir denn bloß unser Leben! Olga! Was wird aus uns?!"
    Kurz zusammengefasst in zwei Stunden auf der Bühne des Münchner Residenztheaters: nichts. Natürlich sind hier die Ausstattung und die Schauspielerinnen vom Feinsten, modern im Ausdruck und differenziert im Spiel. Die ganze Stärke der männlichen wie weiblichen Schauspielkraft des Bayerischen Staatsschauspiels stellte sich hier als Gruppenbild in sensibler Nahaufnahme auf. Modern ist auch das Bühnenbild, kein Gutshaus, sondern ein Wald, ausstaffiert mit echten Bäumen in großen, schwarzen Plastikbottichen, die vorn am Bühnenrand von mehrstufig aufeinandergestapelten Holzpaletten gesäumt sind. Von heute sind auch die Kostüme. Die Probleme, die Anton Tschechow in und mit seiner russischen Adelsgesellschaft hatte, sind in der Inszenierung von Tina Lanik dann aber doch die von vorgestern geblieben.
    Es reicht eben nicht, die ursprünglich alte Amme Anfisa in eine coole Mittfünfzigerin in Baggyhosen und Tanktop zu kleiden, und mit ihrem intensiven Mundkuss auch noch eine lesbische Variante in Olgas verhindertem Liebesleben anzudeuten. Es reicht eben nicht, aus den kriegserprobten Soldaten lauter Schlaffis in zerbeulten Drillanzügen zu zeigen, wenn ihr Text heute völlig antiquiert ist. Es reicht nicht, Bewegung, gar Dramatik nur durch die perfekte Hell-dunkel-Ausleuchtung der Bühne zu erzeugen. Da kann die Schauspielkunst noch so fein in Mimik und Gestik sein, die Nonchalance der Gesellschaft noch so perfekt dargestellt, wenn sich dann doch nichts abspielt:
    "In dieser Stadt drei Sprachen sprechen zu können, ist ein unnötiger Luxus. Nicht einmal ein Luxus, sondern ein nutzloses Anhängsel, so wie ein sechster Finger. Wir wissen viel zu viel, was alles überflüssig ist. Sie wissen zu viel Überflüssiges? Ich glaube, es gibt keine noch so trostlose und langweilige Stadt, in der ein kluger und intelligenter Mensch nicht gebraucht wird. Das kann's doch gar nicht geben."
    Es ist das alte Rollenspiel, das sich in den Stützen der dekadenten, sich besser dünkenden Gesellschaft erhalten hat. Mutter schon lange tot, Vater tot, Kinder hilflos. Die Mädchen irgendwie notgedrungen pragmatisch sich ins Schicksal fügend, der Junge unreif und schwach, sich in sein Eheschicksal fügend.
    Beileibe keine Emanzipationsgeschichte - das wäre ja mal ein Tschechow auf die Höhe der Zeit gebracht! - sondern eine dem Sujet angemessene, sehr ästhetische Inszenierung einer vergangenen Noblesse oblige.