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Residenztheater München
Träumender Prinz und die Netzwelt

Das Residenztheater in München eröffnet die Spielzeit mit Stücken von Kleist und Jennifer Haley. In "Die Netzwelt" begibt sich eine Detektivin auf die Suche nach einem virtuellen Refugium eines Pädophilen. Und Regisseur David Bösch versucht sich an "Homburg" von Heinrich von Kleist.

Von Sven Ricklefs | 27.09.2015
    Das Gebäude vom Marstall spiegelt sich in den Glasscheiben vom Nachbargebäude am 28.02.2014 in München (Bayern).
    Auftakt im Residenztheater München (picture alliance / dpa / Rene Ruprecht)
    Der Welt geht es gar nicht gut in jener Zukunft, die Jennifer Haley da in ihrem Stück "Die Netzwelt" entwirft. Die Umwelt ist zerstört. Natur: Das war gestern. Und so hat sich die Menschheit mehr und mehr in eine Virtualität zurückgezogen: Leben, Arbeitswelt, Bildungssystem, alles ist online in einer Netzwelt, die das Internet von heute weit hinter sich gelassen zu haben scheint.
    Dass in diesem "Second life" für Fortgeschrittene auch sinnliche Erfahrungen und die vollständige Verwandlung in wunschgestaltete Avatare möglich ist, wird auch von Figuren wie Sims genutzt. Er hat sich in dieser Netzwelt eine Art pädophilen Traum verwirklicht, ein Refugium im viktorianischen Stil, in dem Kunden auf Kinder – Avatare auf Avatare - treffen können, um mit ihnen ihre Fantasien auszuleben.
    - "Hat Mr. Woodnut Gebrauch von der Axt gemacht?"
    - "Ich glaube nicht, dass er in diese Richtung tendiert."
    - "Nun ja, vielleicht, er ist ein Stammgast. Vielleicht solltest du ihm einen Schubs geben."
    - "Sollten wir die Gäste nicht selbst entscheiden lassen, wann sie so weit sind?"
    Als Movens ihres Plots hat sich Jennifer Haley die Figur einer Netzweltdetektivin erfunden, die versucht, mit Verhören hinter das Geheimnis des Refugiums zu kommen. Dabei geht das Stück der Frage nach, inwieweit wir dunkle Neigungen bis hin zur Gewalt in einer virtuellen Welt ausleben sollten oder auch können sollten. Oder ob hier Instanzen von Ethik, Verantwortung und Moral gefragt sind.
    Während Jennifer Haleys Stück "Die Netzwelt" zwischen realer und virtueller Welt hin- und herspringt, hat sich Regisseurin Amelie Niermeyer dieser durchaus komplexen Konstruktion im Münchner Cuvilliés-Theater szenisch sehr geschickt genähert. Über einem kargen Bühnensetting mit vier einsamen Verhörtischen schwebt ein Screen wie ein riesiger Rückspiegel über dem Raum, der mal tote Landschaften zeigt, mal durch Gänge irrende und durch Türen verschwindende Kinder, mal Close-ups der Verhörszenen.
    So hat Niermeyer mit ihrer durchaus beeindruckenden deutschsprachigen Erstaufführung mit überzeugenden Schauspielern wie Norman Hacker oder Juliane Köhler den Suspense-Charakter dieser Science-Fiction-Geschichte aufgegriffen und als Movens benutzt, ohne dabei die ethischen Fragen aus dem Blick zu verlieren.
    "Und ich schütze die Kinder meiner Nachbarn. Und ich schütze die Kinder meines Bruders und ich schütze die Kinder, die ich zu haben mir selbst verbiete. Und das kann ich einzig und allein deshalb tun, weil ich einen Ort geschaffen habe, an dem ich - Gott verdammt noch mal - ich selbst sein kann."
    Mit dem Motto "Der Feind im Inneren" hat der Intendant des Münchner Residenztheaters Martin Kusej die neue Spielzeit überschreiben lassen. Und während bei Jennifer Haley die Schatten und Dämonen ins Virtuelle verlegt werden, lässt sich bei Heinrich von Kleists "Homburg" trefflich über jenen Feind diskutieren, der als Richter und Stimme der Moral seine Stimme im Inneren erhebt.
    Doch die eigentlich groß angelegte Auftaktinszenierung der Saison erwies sich dann doch eher als Enttäuschung. Denn auch, wenn Regisseur David Bösch das Stück nun zu einer 100-minütigen Spieldauer zusammengekürzt hat, so merkt man seiner Inszenierung zugleich den fast zu großen Respekt vor der Kleist'schen Sprache und dem staatstragenden Sujet an.
    Er, der sonst wie kaum ein anderer mit einer ganz speziellen, wunderbar koboldhaften Fantasie auf zugleich ganz liebevolle Art mit Figuren und Stücken umgeht, hat sich hier nun zu einer zwar durchaus ansehnlichen, aber eher artigen Erzählung des Homburgschen Falles hinreißen lassen.
    Und das kann nicht einmal Shenja Lacher in der Titelrolle wirklich durchbrechen. Auch wenn dieser forsche Filou unter den Residenztheaterschauspielern etwa in der berühmten Todesfurchtszene durchaus großartige Momente hat.
    Ansonsten aber: ein paar Musikakzente, ein wenig Kanonendonner. Und: Auftritt, Abtritt, Stellung, Text. Und so vermisst man ein wenig die Setzung, vielleicht auch die Haltung, auf jeden Fall eine Prise Humor bei diesem Kleist'schen Homburg im Münchner Residenztheater. Man vermisst David Bösch eben. Und das ist schade.