Donnerstag, 28. März 2024

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Retrospektive in Colchester
Gee Vaucher kann auch malen

Einen Tag nach der Wahl des neuen Präsidenten der USA ging ein Bild um die Welt, das schon einmal nach dem 11. September den Zustand Amerikas erfasste: Die amerikanische Freiheitsstatue, die Hände vor das Gesicht schlagend. Nur Wenige kennen seine Macherin, die Künstlerin Gee Vaucher. In der Firstsite Gallery in Colchester ist nun ihr Oeuvre aus 50 Jahren zu entdecken.

24.11.2016
    Die Künstlerin Gee Vaucher signiert einen Druck von "Oh America"
    Die Künstlerin Gee Vaucher signiert einen Druck von "Oh America" (Martina Groß)
    Jahrzehntelang war Gee Vaucher fast ausschließlich für ihre Plattencover, Banner und Filme der Anarcho-Punkband Crass bekannt, die von 1977 bis 1984 existierte, und die Punkszene aufmischte und politisierte. Vauchers Einsatz von Collagetechniken, Schablonen Schriften und drastischen Bildern stilprägend für die politische Punkszene. Das Bild des erschöpften Soldaten, mit dem Zahnpastalächeln, Jesus am Kreuz als Kriegsversehrter oder die abgerissene Hand im Drahtzaun. "Your Country Needs You", "Dein Land braucht dich".
    Nach Retrospektiven in Los Angeles und New York ist ihr Werk, auch vor und nach Crass, erstmalig in England zu sehen. Und das ist spannend und vielfältig. Malerei, multi-mediale Installationen, Zeichnungen, Collagen, Druckgrafiken und Skulpturen. Um all das zu sehen, mussten sich die Besucher am Eröffnungsabend allerdings erst einmal einen Weg durch 3.000 weiße Luftballons bahnen.
    Mitgefühl als Essenz in Vauchers Oeuvre
    "Die Essenz, die sich durch ihr gesamtes Werk zieht, ist Mitgefühl. Von ihren eindeutig politischen Arbeiten, die einen stark fordern, bis zu den persönlicheren Werken, die etwas zugänglicher sind, sowohl äußerlich-ästhetisch als auch inhaltlich - darin geht es mehr um Identitätspolitik, um Persönlicheres", sagt Marie-France Kittler.
    Kittler, sie hat die Ausstellung zusammen mit ihrem Kollegen Stevphen Shukaitis, einem bekennenden Crass-Fan, kuratiert. Gee Vauchers scheinbar privatere Arbeiten befinden sich in abgetrennten Räumen: zum Beispiel die großformatigen Ölportraits von sechs Kindern mit einem irritierend ernsten Gesichtsausdruck. Gee Vaucher:
    "Viele Immigrantenkinder kommen aus Kriegsgebieten. Ich hatte das Gefühl, etwas sehr Dramatisches zu spüren, davon erzählten diese jungen und zugleich alten Gesichter, was immer auch passiert war. Man kann seine eigene Vorstellungskraft nutzen. Also malte ich diese Portraits und heraus kamen die Kinder, die zu viel zu früh gesehen haben."
    Vauchers Arbeiten sind häufig von einem feinen surreal-anmutendem Humor durchzogen. Zum Beispiel "Animal Rites". Ein Wortspiel aus Tierrechten und -ritualen. Welche menschlichen Züge projizieren wir auf Tiere? Als Haustiere oder - Jagdbeute? Auf den Fotos von Menschen und Tieren tragen auch letztere menschliche Gesichter.
    "Nichts ist verkäuflich"
    Auch ihr zurzeit vielleicht bekanntestes Bild "Oh America" ist zu sehen. Entstanden 1989 als Auftragsarbeit für das Plattencover der Punkband "Tackhead". Darauf schlägt die Statue of Liberty ihre Hände vor dem Gesicht zusammen, über den Zustand Amerikas und der Welt. Ein ikonografisches Bild, das heute so aktuell ist wie damals. Am Tag nach der Präsidentenwahl in den USA war es das Titelbild des Daily Mirrors. Die Bedingungen für den Abdruck hatte Vaucher präzise formuliert. Allerdings brach der Daily Mirror die meisten der Vereinbarungen und entschuldigte er sich am nächsten Tag dafür. Gee Vaucher wurde eine finanzielle Entschädigung angeboten:
    "Ich sagte ihnen, die können es behalten. Das ist verkehrt! Wenn man etwas verspricht, dann steht man dazu."
    Auch mit 71 Jahren ist Gee Vaucher kompromisslos wie eh und je. Ihre Kunst und ihr Leben stehen für Integrität, dazu gehört auch ein klares "Nein" zu den Spielregeln des Kunstmarktes:
    "Nichts ist verkäuflich. Nur sehr selten biete ich meine Sachen zum Verkauf. Ich besitze alles, was ich gemacht habe. Die Idee privater Sammlungen, die niemand zu sehen bekommt, missfällt mir total", sagt Vaucher. "Drucke sind etwas anderes. Das ist okay. Eine hohe limitierte Auflage, die sich viele Leute leisten können."
    Im letzten Raum der Ausstellung in Colchester befinden sich vor allem Bilder von Frauen, darunter ist auch ein Selbstportrait, das von einem archaischen Gesicht überdeckt wird.
    "Am Ende sind wir alle Menschen, die wahrscheinlich dasselbe wollen: Anerkennung, Vertrauen, Respekt, Möglichkeiten, sich zu entfalten und Freude, Balance", sagt Vaucher. "Und das können wir einander geben, wenn wir nur verstehen würden, dass es keinen Sinn macht, nur zu schimpfen, vor allem über die politischen Parteien, die die Macht haben und den Rest. Entweder du fängst an, etwas zu verändern, oder alles bleibt so wie es ist."
    Gee Vaucher: Introspective. 12. November 2016 bis 19. Februar 2017, Firstsite Gallery in Colchester.