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Retter und Teufelsknecht

Das Ghetto von Lodz stand bis zu seiner Auflösung unter jüdischer Selbstverwaltung, was angesichts des Vernichtungswillens der Nazis an Heimtücke kaum zu überbieten war. Chaim Rumkowski wurde als Leiter der Selbstverwaltung eingesetzt. Um diesen berühmt-berüchtigten "Judenältesten" kreist Steve Sem-Sandbergs Roman und der Autor versucht erst gar nicht, dessen Handeln moralisch zu bewerten.

Von Brigitte van Kann | 24.11.2011
    Am 10. Dezember 1939, nur drei Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen, befahl SS-Brigadeführer Friedrich Uebelhoer in seiner Eigenschaft als Gau-Inspektor und Regierungspräsident die Einrichtung des Ghettos von Lodz, der polnischen Industriestadt, die von den Besatzern den Namen Litzmannstadt erhielt. Der Befehl trug zwar den Vermerk "Geheim. Streng vertraulich", ging aber an mindestens acht Dienststellen der deutschen Zivilverwaltung, die Vertreter in einen Vorbereitungs- und Ausführungsstab entsenden mussten. Es waren also – schon im Dezember 1939 – sehr viele Deutsche in diesen auf Beraubung, Ausbeutung und Ermordung der Juden von Lodz abzielenden Plan eingeweiht. Unmissverständlich hatte der Verfasser am Schluss seines Dienstdokuments geschrieben:

    "Die Erstellung des Ghettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Zu welchen Zeitpunkten und mit welchen Mitteln das Ghetto und damit die Stadt Lodz von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muss jedenfalls sein, dass wir diese Pestbeule restlos ausbrennen." Gez. Uebelhoer

    Dieses Dokument hat der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg an den Anfang seines Romans "Die Elenden von Lodz" gesetzt – denn es enthält im Kern bereits alles, was den im Ghetto der Stadt Eingesperrten widerfahren wird – und damit, wovon Sem-Sandbergs Roman handelt.

    Angesichts des Vernichtungsziels, das die deutschen Besatzer von Kriegsbeginn an verfolgten, ist eine von Uebelhoers Anordnungen von besonderer Perfidie: die unverzüglich einzurichtende jüdische Selbstverwaltung des Ghettos. Die Juden sollten zu Handlangern ihrer Mörder werden und ihre eigene Vernichtung selbst ins Werk setzen.

    Wie das Verhalten des berühmt-berüchtigten Oberhaupts der Ghetto-Selbstverwaltung, des "Judenältesten" Chaim Rumkowski, moralisch zu beurteilen ist, ob man es überhaupt beurteilen kann – das ist die Frage, um die Sem-Sandbergs Roman kreist, ohne sie explizit zu stellen und ohne sie eindeutig zu beantworten. In seinem Nachwort und etlichen Interviews verweist der Autor darauf, dass es auf die Perspektive ankomme, aus der man diesen Menschen betrachtet: Überlebende nennen Rumkowski ihren Retter, denn er verwandelte das Ghetto in ein Gefüge aus leistungsfähigen Industriebetrieben, das den Deutschen Millionengewinne eintrug und die jüdischen Arbeiter zumindest eine Zeit lang schützte. Arbeit gegen Leben. Um das Ghetto vorläufig vor der Auflösung und seine arbeitsfähigen Insassen vor dem Tod zu bewahren, musste Rumkowski die Deportation der Kranken, Alten und Kinder mittragen. Spätestens an diesem Punkt seines Pakts mit dem Teufel lässt der Autor den "Judenältesten" des Ghettos von Lodz seine Ohnmacht erkennen.

    Im Juni 1944, wenige Wochen vor der Auflösung des Ghettos, lebten dort noch 76.500 Menschen. Hätte die Rote Armee Lodz zu diesem Zeitpunkt befreit, wäre Rumkowski als Held und Retter gefeiert worden, vermutet Sem-Sandberg. 76.500 Gerettete gegen mehr als 200.000 Ermordete? Wie viele darf man opfern, um wie viele zu retten? Das sind entsetzliche, peinigende Rechnungen.

    Andere Zeitzeugen beschreiben Rumkowski als willigen, machtbesessenen Kollaborateur, als monströses Scheusal, das sich an den Waisenkindern, die unter seinem Schutz standen, verging. Auch dafür lassen sich in der Geschichte die entsprechenden Fakten finden.

    "Die Historie kann die Person nicht in ihrer Gesamtheit erfassen, man muss die Fiktion wählen, um eine vielschichtige Person wie Rumkowski greifen zu können", hat Sem-Sandberg in einem Interview mit dem Wiener "Standard" gesagt – und damit sein Verfahren begründet, die Leerstellen der Geschichtsschreibung literarisch zu füllen.

    So leuchtet der Autor zum Beispiel Rumkowskis Kindheit aus, über die es kaum sichere Auskünfte gibt: Sem-Sandberg beschreibt ihn als von anderen Kindern verspotteten, dicken, unbeholfenen Jungen. Chaim Rumkowski gehört nicht dazu. Als er seine Klassenkameraden beim Lehrer angeschwärzt, wird er erst recht zum Außenseiter – und wähnt sich glücklich, als die anderen Kinder ihn plötzlich freundschaftlich in ihre Mitte nehmen und zu einer Mutprobe überreden: Er soll durch den Fluss waten. Kaum ist er im Wasser, bewerfen sie ihn mit Steinen – er kann sich mit Mühe ans Ufer retten.

    Hinterher musste er mit dem Rücken zur Klasse stehen, während ihn Stromka – der Lehrer – mit dem Stock verprügelte. Fünfzehn heftige Hiebe auf Hinterteil und Schenkel, die dort, wo die Steine getroffen hatten, bereits blau und geschwollen waren. Nicht, weil er dem Unterricht ferngeblieben war, sondern weil er seine Kameraden verleumdet hatte. Doch woran er sich im Nachhinein erinnern sollte, war nicht die Denunziation und die Strafe, sondern der Augenblick, als die lächelnden Kindergesichter am Fluss urplötzlich zur hasserfüllten Mauer wurden und er begriffen hatte, dass er wie in einem Käfig feststeckte. Ja, immer wieder würde er ... auf diesen offenen Käfig zu sprechen kommen, durch dessen Gitterstäbe unablässig Steine geworfen oder Stöcke nach ihm gestoßen wurden, und darauf, dass er gefangen war, nirgendwo hinkonnte und nichts zu tun vermochte, um sich zu schützen.

    Das Erlebnis, das die literarische Fantasie diesem Mann zuschreibt, ist erfunden und zugleich wahr, denn es antizipiert Rumkowskis Niedergang, als aufgebrachte Ghetto-Bewohner ihn tatsächlich mit Steinen bewarfen. Und es verweist bereits auf sein Ende, die Deportation mit dem letzten, das Ghetto Lodz verlassenden Transport, obwohl die deutschen Ghetto-Behörden ihm und seinen Angehörigen mit Brief und Siegel das Überleben zugesichert hatten. Wie das Kind Chaim als literarische Figur, musste auch die reale Person die Erfahrung des Vertrauensbruchs machen – und plötzlich erkennen, "dass er gefangen war, nirgendwo hinkonnte und nichts zu tun vermochte, um sich zu schützen".

    Der diagnostische Blick in Chaim Rumkowskis widersprüchliches Wesen, die Erforschung seines Handelns, seiner Handlungsspielräume unter totalitären Bedingungen – das ist einer der beiden Stränge, die diesen Roman zusammenhalten. Geknüpft ist er aus literarischer Vorstellungskraft und dokumentarischer Treue.

    An Material mangelte es dem Autor nicht. Die gesamte Chronik des Ghettos Lodz ist erhalten, über 3000 Seiten, geschrieben von Mitarbeitern des Ghetto-Archivs, in der Zeit vom 12. Januar 1941 bis kurz vor der Auflösung des Ghettos im August 1944. Ein einzigartiges Dokument, das von der jüdischen Selbstverwaltung in Auftrag gegeben wurde und zunächst nicht mehr war als ein Melde-, Krankenstands- und Produktionsregister. "Insgeheim" sollte es aber auch die Geschichte des Ghettos für die Nachwelt bewahren und entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einer Art kollektivem Tagebuch. Steve Sem-Sandberg geht davon aus, dass Personen wie Rumkowski durchaus Einfluss auf die Chronik nahmen, um ihr Bild für die Nachwelt zu schönen – womit die Chronik selbst bereits einer Fiktionalisierung unterworfen gewesen sei.

    Der schwedische Autor, geboren 1958, gehört mit den "Elenden von Lodz" zu den Pionieren eines neuen Erzählens über die Vernichtung der europäischen Juden – bislang schien es ein ungeschriebenes literarisches Gesetz zu sein, dass darüber keine fiktive Literatur zu schreiben sei, vor allem dann nicht, wenn der Autor das Geschriebene nicht durch eigenes Erleben und Überleben beglaubige und rechtfertige wie Primo Levi, Jorge Semprun oder Imre Kertész.

    Darauf angesprochen, hat Sem-Sandberg gesagt, er befürchte eine Musealisierung der Erinnerung, wenn die letzten Überlebenden des Holocaust gestorben seien, begleitet von einer Sentimentalisierung, wie sie in populären Werken bereits jetzt zu Tage trete. Als Beispiel nennt er den Film "Der Pianist", der das Überleben eines Einzelnen feiere. "Das ist eine Lüge", sagt Sem-Sandberg, "weil in Wirklichkeit fast niemand überlebte."

    So ist sein Roman über die Menschen im Ghetto von Lodz auch keine Geschichte des Überlebens und der Überlebenden, sondern eine Geschichte der Ermordeten. Ihnen verleiht der nachgeborene Schriftsteller Namen und Stimme – ein polyphones Totengedenken in literarischer Form, das sich als zweiter Erzählstrang durch den Roman zieht.

    Am Ergreifendsten von all diesen Ghetto-Biografien ist vielleicht die Geschichte des jungen Adam Rzepin, der verzweifelt, tapfer und tollkühn um sein Überleben und um die Rettung seiner behinderten Schwester kämpft, der mehrfach gefangen genommen wird und der Folter standhält, der schließlich die letzten Monate bis zum Einmarsch der Roten Armee ganz auf sich gestellt, ohne Nachrichten von der Außenwelt und halb tot vor Hunger im Ghetto übersteht. Nichts wünscht man als Leser sehnlicher, als dass wenigstens er am Ende, als die sowjetischen Panzer ins Ghetto von Lodz rollen, überlebt.

    Diesen wunderbaren Befreiungsaugenblick muss er mit seinem ganzen Körper erleben. Sonst wird er nie wirklich. Und jetzt sieht auch er es. Am hinteren Ende der Zagajnikowa sind Stacheldraht und Zäune weggerissen, das Schilderhäuschen, in dem der deutsche Ghettowachtposten, das Schnellfeuergewehr vor dem Bauch, dastand, liegt umgestoßen am Boden. Jenseits der Grenze ist die Landschaft dieselbe wie hier. Dasselbe schräg fallenden Sonnenlicht, dieselben schmutzigen Flächen schmelzenden Schnees. Er kann sich nicht länger zügeln. Rennt vorbei am heruntergerissenen Stacheldrahtverhau direkt auf den freien Acker hinaus und beginnt zu tanzen, die Arme in die Luft gestreckt – jubelnd – hinauf zum grenzenlosen weißen Himmel. Da fällt der erste Schuss. Gleich darauf fällt ein zweiter. Er kann nicht begreifen, warum ihm die Beine nicht länger gehorchen. Voller Panik begreift er, dass sie auf ihn schießen.
    Woher kommen die Schüsse? Wer schießt da? Er dreht sich um, will ... irgendwie deutlich machen, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Sie sind befreit. Er selbst war nie jemandes Feind.
    Jetzt aber hallt ein weiterer Schuss ..., und sein Körper wird mit dem Gesicht voran direkt in die süße, schwarze Erde gepresst. Mit aller Macht versucht er das Gesicht aus dem Lehm zu zwingen, es hoch zum Licht zu wenden. Und in diesem Winkel bleibt der Himmel hängen. Nun gibt es ihn nicht mehr.


    Ist es möglich, dass die Befreier einen jungen Mann erschießen, der vor Freude über seine Rettung tanzt? Halten sie ihn für einen Deutschen, weil er ein erbeutetes deutsches Gewehr trägt? Kann es sein, dass Adam die sowjetischen Panzer nur in seinem Hunger- und Fieberdelirium sieht und sein Versteck zu früh verlassen hat?

    Wie der Schluss verlangt dieser ganze großartige, irritierende und erschütternde Roman die emotionale und gedankliche Beteiligung des Lesers, er flößt Mitleid mit den Opfern ein und verbietet das Urteil über die Opfer, die zu Mittätern wurden. Urteile nicht über Menschen in solcher Not, sagt der Roman, vor allem: verurteile sie nicht, denn alle Kriterien versagen vor der monströsen Lage, in die man sie gezwungen hat. So wie es auf der ersten Seite des Romans heißt: "Aber wie kann es eine Wahrheit geben, wenn es kein Gesetz gibt, und wie kann es ein Gesetz geben, wenn es die Welt nicht mehr gibt?"

    Steve Sem-Sandberg: "Die Elenden von Lodz". Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett Cotta, Stuttgart 2011, 650 Seiten.