Freitag, 29. März 2024

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Revival von Radio 100
"Was wir uns alles getraut haben!"

Stimmen der DDR-Opposition, Straßenschalten als Sportevent, gefälschter Mauerfall: Mit einem provokanten Programm irritierte der erste private Berliner Hörfunksender Radio 100 Ende der 80er-Jahre seine Hörer und die Politik in West und Ost. Am Samstag wird das anarchisch-politische Radio für einen Tag zum Leben erweckt.

Michaela Kay und Michael Neuner im Corsogespräch mit Adalbert Siniawski | 02.03.2017
    Gruppenaufnahme eines Teils der Redaktion Radio100
    Gruppenaufnahme eines Teils der Redaktion Radio100 (Thomas-Raese)
    Adalbert Siniawski: West-Berlin, Ende der 80er Jahre: Ein kleiner, mutiger Radiosender schickt das erste lesbisch-schwule Programm in den Äther. In einer anderen Sendung liest der Moderator eine gefälschte Meldung über die angebliche Öffnung der Berliner Mauer - und sorgt damit bei den Hörern für große Verwirrung. Und überhaupt DDR: Regelmäßig haben Bürgerrechtler jenseits der Mauer ihr eigenes Fenster im Programm. Radio 100 hieß dieser anarchisch-politische Sender, der vor 30 Jahren als eines der ersten privaten Programme die Hörfunklandschaft in Berlin und darüber hinaus aufmischte.
    1991 wurde Radio 100 nach einem Insolvenzverfahren der Stecker gezogen. Doch die Erfolgsgeschichte wird an diesem Samstag für einen Tag neu aufgelegt: Die Macher von damals bringen Radio 100 noch einmal auf Sendung. Wie das klingen wird, hören wir jetzt von Michael Neuner - früher PR-Mann und Programmgestalter-, und Manuela Kay, Moderatorin der ersten Stunde bei der lesbisch-schwulen Sendung Eldoradio. Guten Tag nach Berlin!
    Manuela Kay: Hallo!
    Michael Neuner: Hallo!
    Siniawski: Ja, warum etwas aus Nostalgie wiederbeleben, was längst Geschichte ist und sich erledigt hat?
    Neuner: Hat es sich erledigt? Das ist ja genau die Frage, weshalb wir das Ganze veranstalten. Das ist ein Rückblick, das ist für viele auch eine persönliche Frage. Es ist ein bisschen Selbstbeschauung. Es ist ein Abgleich mit der Jetzt-Zeit. Haben wir Spuren hinterlassen, wenn ja: wo? Wo wären wir heute?
    "Das Konkursverfahren war ie vieles bei uns auch ein Fake"
    Kay: Und wir waren ja auch noch gar nicht fertig. Sie haben es ja in der Anmoderation gesagt. Uns wurde der Stecker gezogen, ja! Konkursverfahren war aber - wie vieles bei uns - auch ein Fake. Wir waren faktisch gar nicht Konkurs. Es gab 1991 nämlich ganz starkes Interesse an der dann im neuen Berlin - in der boomenden kommenden Hauptstadt - an unserer Frequenz. Und wir wurden praktisch gegen unseren Willen rausgeschmissen und ein neuer Sender hat ohne Vergabeverfahren dann auf unserer Frequenz einfach weitergesendet. Und deshalb haben wir da vielleicht noch etwas aufzuarbeiten.
    Siniawski: Genau, aber gucken wir doch mal was es überhaupt für ein Sender war. Berlin, 1987, damals gab es im Radio auf West-Seite den US-amerikanischen Rias zu hören und die Programme des öffentlich-rechtlichen SFB - Sender Freies Berlin. Da geht Radio 100 - neben dem Sender Hundert,6 - als erstes Privatradio in Berlin On Air. Mit welcher Message und welcher Überzeugung?
    Kay: Unsere Ausrichtung war überschrieben mit links-alternativ. Wir waren so eine Art "taz" im Radio. Heute würde man irgendwo sagen, zwischen öko und sicherlich auch aus dieser Aufbruchsstimmung der 80er Jahre, also Friedensbewegung, Anti-Atombewegung. Wir hatten natürlich auch nicht-deutschsprachige Programme als erster Sender.
    Neuner: Türkisch, Kurdisch, als erste überhaupt.
    Kay: Also da waren wir schon sehr bewusst. Schwul-lesbisch, sehr feministisch. Wir hatten zwar diese Sendung, aber es haben alle überall mitgearbeitet. Das war ein sehr neuartiges Konzept. Wir waren sehr radikal und ich glaube, sehr weit unserer Zeit voraus. Auch - ich würde sagen - kackfrech wirklich. Wir haben uns unheimlich viel getraut. Wir hatten eine Radikalität, die mich heute noch erschreckt, wenn ich alte Sendungen höre. Was wir uns getraut haben!
    "Es gab keine Scheren im Kopf"
    Neuner: Und das ist also nicht auf den rein politischen Bereich beschränkt gewesen. Das zog sich eben auch stellvertretend für alle kulturellen Strömungen der Stadt durch das Programm. Es gab keine Scheren im Kopf - auch beispielsweise in den verschiedenen Musikredaktionen. Und das war ja dann auch so ein bisschen die Fahne, die man vor sich her trug. Die Musikredaktionen mussten keinen Bestimmungen folgen, sie konnten wirklich ausprobieren. Und wir waren als einziger Sender der Bundesrepublik als independent eingestuft, was auch dazu führte das eben die kleinen Labels, die es sich sonst gar nicht leisten konnten große andere Sendergruppen zu bemustern, gewusst haben: Bei denen werden wir gespielt, also schicken wir da auch mal eine Platte hin. Das rentiert sich, da haben wir eine Chance. Und so eskalierte das auch, im positiven Sinne.
    Tonregieraum bei Radio100
    Tonregieraum bei Radio100 (Thomas Raese)
    Kay: Aber wenn wir Lust hatten, haben wir auch Schlager gespielt. Also alles war möglich. Es war nicht verboten in diesem Sender.
    Siniawski: Alles möglich. Basisdemokratisch. Gab es da überhaupt einen gemeinsamen Nenner, bei dieser sehr heterogenen Truppe.
    Kay: Ja und nein. Wir haben uns natürlich die Köpfe heiß geredet. Ganz klar, aber irgendwann hat auch so eine Art Pragmatismus gesiegt, weil wir waren ja keine Diskussionsgruppe oder politische Initiative. Wir mussten Sendung machen, anfangs vier Stunden, später sechs Stunden und dann schließlich 24 Stunden, rund um die Uhr. Und irgendwann mussten wir fertig werden mit dem Diskutieren und Streiten und mussten auf Sendung gehen, und das hat uns glaube ich ganz gut getan. Ich würde mal sagen der kleinste gemeinsame Nenner war: Das Rotlicht geht an - wir müssen senden. Und dann hat man sich berappelt und irgendwie erstaunlich gute Sendungen zum Teil gemacht.
    "Ein anarchistischer-radikaler Humor"
    Siniawski: Und einmal im Monat gab es dann für das Berliner Umland, also sprich die DDR damals "Radio Glasnost", in dem viele Vertreter der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu Wort kamen, weil Aufnahmen aus der DDR nach Westberlin geschmuggelt wurden. Und in einer anderen Sendung Ende Oktober 1989 hat Moderator und Filmemacher Uli Schueppel eine Fake-News verlesen, wie man heute sagen würde:
    "Wir müssen hier kurz mal unterbrechen. Im Nebenraum laufen die Ticker rund. Ich muss euch unbedingt die brandheißeste DPA-Meldung durchgeben.'Ost-Berlin: Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen in Ost-Berlin verlautet wurde, hat die SED-Führung in geheimer Sitzung die völlige Öffnung der innerdeutschen Grenze in beide Richtungen beschlossen.'"
    Siniawski: Ja, brandheiß die News. Dutzende Hörer riefen damals verwundert beim Sender an. Das war 2 Wochen, bevor die Mauer tatsächlich gefallen ist. Schueppel wurde auch wegen einer anderen Grenzüberschreitung in der Sendung wohl entlassen. Aber dennoch: Gab es damals noch diesen Freiraum für Anarchie und schwarzen Humor? Und vielleicht auch: War das Leichtsinn? Gibt es das heute vielleicht noch?
    Kay: Heute gibt's das nicht mehr so. Also so frisch und so unerschrocken ohne das man an die Konsequenzen denkt, gibt's das sicherlich nur noch teilweise. Also ich vermisse das auch stark. So ein anarchistischer-radikaler Humor.
    Neuner: Es geht ja nicht nur darum, dass wir uns inhaltlich ausgetestet haben. Wir haben ja auch mit dem kompletten Medium und den Strukturen herumexperimentiert. Wie gestaltete ich ein Radio? Wie müssen wir miteinander umgehen - wenn man vorher über Diskussionskultur spricht? Welche Maßnahmen ergreifen wir, um auch ökonomisch überleben zu können. Das war ja offen in alle Bereiche. Und diese Experimente sehe ich heute vielleicht hier und da mal ansatzweise im Internet, aber in dieser Wucht und in dieser Breite als gesellschaftliches Experiment sehe ich es nicht.
    "Womit kann ich die Welt verbessern?"
    Siniawski: Aber an den privaten Hörfunk waren damals große Hoffnungen geknüpft! Heute wissen wir, wie er sich entwickelt hat: alles durchformatiert, wenig Experimente. Ja, was ist da schief gelaufen?
    Kay: Naja, schief gelaufen. Es gibt natürlich immer einige wenige, die denken, sie müssten an ihre Karriere denken. Als wir loslegten mit Radio 100 haben wir alle glaube ich überhaupt nicht daran gedacht, dass wir davon leben wollen oder damit Geld verdienen. Uns war erstmal nur wichtig, dass der Sender überlebt und dass die Kosten, Miete, Technik und so ein Kram irgendwie getragen werden - über Werbung, aber dass wir selber ja auch Miete zahlen müssen und was essen, daran haben wir einfach nicht gedacht. Wir haben alle nebenbei gejobbt und dann steht heute mehr im Vordergrund: "Womit kann ich Geld verdienen?" als "Womit kann ich die Welt verbessern?" Wir hatten damals noch an erster Stelle an die Weltverbesserung, würde ich sagen.
    Podcast - ein bisschen autistisch
    Siniawski: Findet man sowas vielleicht heute bei den Podcasts, wo eben diese mutigen, schrägen und individuellen Formate eine Nische finden - von Politik über Special-Interest bis hin zu neuen Erzählformen?
    Kay: Also ich persönlich bin nicht so ein Fan von Podcasts, mir ist das zu unprofessionell. Das können alle machen wie sie möchten. Ich sehe das aber eher als so eine Art Tagebucheintrag. Dazu hat man sicherlich auch das Recht, aber ob man das unbedingt veröffentlichen muss, weiß ich nicht.
    Kreative Redaktionsarbeit bei Radio100
    Kreative Redaktionsarbeit bei Radio100 (Rhomas Raese)
    Neuner: Es ist im Gegensatz zu unserem großen Projekt irgendwie auch ein bisschen autistisch. Weil wir mussten uns ja auch im Vorfeld schon ein bisschen miteinander auseinandersetzen, bevor wir dann auf den Rest der Menschheit On Air losgelassen wurden.
    Kay: Und trotzdem hatten wir einen journalistischen Anspruch. Also wir hatten schon Redaktionen und Leute, die da nochmal drüber geguckt haben. Und die Radikalität innerhalb eines journalistischen Formats, das war ja das spannende an Radio 100.
    "Ich war dafür bekannt, sehr schlecht gelaunt zu sein"
    Siniawski: Am Samstag wird Radio 100 einen Tag wieder auferstehen: Wie wird das Revival klingen? Anders als damals?
    Neuner: Ich denke, Manuela wird sich anhören wie seinerzeit. Man kann es sich anhören auf 88,4. Wir streamen das auch auf unserer Webseite www.radio100.de.
    Siniawski: Da kommt der Marketingfachmann durch.
    Neuner: Natürlich, ich muss doch jetzt endlich mal die Werbebotschaften hier absondern.
    Siniawski: Aber dieselben Sendungen von damals?
    Kay: Zum Teil, also ich darf wirklich am Samstagfrüh mit dem Morgengrauen anfangen. Das war die Sendung immer von 7:00 bis 10:00 Uhr.
    Neuner: Steht hier auch als Untertitel: "Mies gelaunt am frühen Morgen", wie schon in den 80ern. "Moderation: Manuela Kay."
    Die Vielfalt West-Berlins
    Siniawski: Und worum wird es gehen, wissen Sie das schon?
    Kay: Ich war dafür bekannt, sehr schlecht gelaunt zu sein, während auf anderen Sendungen dann immer: "Ja, ruft uns an und ein toller neuer Tag" war das auf Radio 100 ein bisschen anders und traf glaube ich das Lebensgefühl unserer Hörerinnen und Hörer morgens um 7:00 Uhr sehr viel besser. Was gibt es zuhören? Ich freue mich zum Beispiel sehr: Wir werden ein Interview mit Walter Momper haben, der ja zum Mauerfall regierender Bürgermeister in - damals noch West-Berlin - war. Und mit dem werden wir so ein bisschen zurückblicken. Wie erinnert er sich an das anarchistische West-Berlin. Wir haben ein paar Zeitzeugen. Wir waren ja auch ein Teil dieser Schöneberger Kultur. Da Potsdamer Straße war auch so ein Biotop aus Prostitution und Straßenstrich und nebenan war ein von Lesben besetztes Haus und gegenüber türkische Imbissbuden. Und es war so ein Ökotop, was sich auch direkt im Radioprogramm wiederspiegelte, diese Vielfalt von West-Berlin damals.
    Siniawski: Das also am Samstag in Berlin. On Air auf UKW 88,4 und im Live-Stream auf www.radio100.de. Und im Berliner Columbia Theater gibt es am Freitag und Samstag, Diskussionen, Panels, eine Ausstellung und Party. Viel Spaß dabei, Manuela Kay und Michael Neuner. Danke.
    Neuner: Danke!
    Kay: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.