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Revolutionen in der Geschichte
Die die Welt verändern

Eine klassische "Revolution von unten" galt nach dem Ende des Kalten Krieges als Anachronismus. Doch mit dem Gelbwesten-Protest in Frankreich gab es erstmals wieder Hoffnungen auf einen Systemwandel. Hat in Zeiten der Globalisierung die gute, alte Revolution ihren Zauber wiedergefunden?

Von Norbert Seitz | 14.03.2019
Neue Proteste in Paris. Ein Demonstrant hält ein Schild mit der Aufschrift "Gelbwesten = weltweite Revolution gegen die Finanzwirtschaft".
Wie zeitgemäß sind heute noch Revolutionen? (AP)
"Es ist eine Form von gesellschaftlichem Ausnahmezustand, wo nicht klar ist, wer jetzt eigentlich die Macht hat, wie die Ordnung, wie das Recht funktioniert."
Versucht sich Philipp Kufferath vom Bonner Archiv für Sozialgeschichte an einer eingehenden Definition des Begriffs Revolution. Dieser scheint nämlich umso inflationärer verwandt zu werden, je geringer die Aussicht ist, das damit verbundene Ereignis in seiner ursprünglichen Bedeutung noch empirisch anzutreffen.
"Der Begriff der Revolution kommt ursprünglich aus dem astronomischen Kontext, und er bezeichnet eine Drehbewegung von Wandelsternen, von Planten die sich dann mit einer Naturgewalt vollziehen und nicht aufgehalten werden können."
Erklärt der Historiker Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Danach kommt die klassische Revolution von unten, beinhaltet den spontanen Aufstand der Massen, schließt die Gewalt mit ein und eine genaue Planung aus.
"Welche Pläne unerfüllbar sind, weiß man immer erst im Nachhinein. Revolutionen, die auf Pläne zurückgehen, bezeichnet man in den Geschichtswissenschaften sicher eher als Putsche und als Staatsstreiche, als Coups. Revolutionen geschehen nach Lenin dann, wenn die Herrschenden nicht mehr können, und die Beherrschten nicht mehr wollen. Aber diesen Zeitpunkt und diese Umstände zu ermessen, ist im Vorhinein unmöglich. Es macht ja gerade den eruptiven Charakter aus, den wir mit Revolutionen verbinden."
Revolutionen "von unten" – Revolutionen "von oben"
Aber schon Friedrich Engels, der theoretische Compagnon von Karl Marx, sah dies Ende des 19. Jahrhunderts gelassener, als er zu der Einsicht gelangte, die Zeit der Revolutionen >von unten< sei abgelaufen. Es habe schon mit Napoleon III. nach 1848 die Zeit der>Revolutionen von oben< begonnen. Eine Aussage, die sich auf entwickelte Gesellschaften bezog. Und der Historiker Heinrich August Winkler weist auf ein weiteres einschränkendes Kriterium hin.
"Der Historiker Reinhart Koselleck hat vor einigen Jahren die These vertreten, es habe nach 1848 eigentlich nur noch Revolutionen im Schatten von Niederlagen gegeben. Dafür spricht sehr vieles. Also Revolutionen als das Ereignis verlorener oder verloren gehender Kriege – das gilt für die russische Oktober-Revolution wie die deutsche November-Revolution von 1918/19."
Bei der deutschen November-Revolution, deren hundertster Jahrestag gerade begangen wurde, war "die Naturgewalt" nicht der gesetzmäßige Schritt von der bürgerlichen zur proletarischen Herrschaft, sondern die tief sitzende Friedenssehnsucht im Volk. Weshalb der Historiker Robert Gerwarth auch eine Lanze zu brechen versucht für die damalige Erhebung, die häufig nur als "stecken geblieben" oder "verraten" abgewertet worden sei.
"Ich denke, man muss die deutsche Revolution vergleichen mit jenen Revolutionen, die zeitgleich stattfinden in Mittel-osteuropa. Es macht wenig Sinn, hier den Vergleich zu ziehen mit Frankreich 1789. Gerade aus dieser Perspektive ergibt sich, denke ich, schon ein neues Bild der November-Revolution. Denn im Vergleich zu den meisten anderen Revolutionen, die zeitgleich stattfinden, ist sie nicht nur deutlich weniger blutig, sondern auch tatsächlich langlebiger, was ihre Ergebnisse anbelangt , nicht nur dass die meisten Demokratien, die um 1918 geschaffen werden, im Januar 1933 schon längst wieder verschwunden sind."
So grenzt es auch an Revolutionsromantik, wenn der November-Aufstand noch nachträglich an einem tabula-rasa-Anspruch gemessen wird à la Frankreich 1789 oder Russland 1917. Dazu Martin Sabrow:
"Revolutionen einem didaktischen Handlungsschema zu unterwerfen, das genau dosiert sagt, wie man zu gehen hat und wo man aufhalten solle, ist natürlich realitätsfern. Die Handelnden haben nicht den Überblick, den wir ihnen zumessen, mit einer oft teleologischen Betrachtungsweise, die im Nachhinein erkennbare Fehler sieht , aber ob man das den zeitgenössischen Akteuren tatsächlich zum Handlungsvorwurf machen kann, mag dann doch sehr dahin stehen."
Revolutionen des inneren Menschen
Revolutionen werden nüchtern als institutioneller Systemwandel definiert. Darüber hinaus befasst sich Verena Wirtz, Historikerin an der Universität Koblenz-Landau, mit dem Phänomen einer Kultur- oder Bewusstseinsrevolution. Als Beispiel dient ihr dabei die Münchener Revolution und Räterepublik vom Frühjahr 1919. Einer der damaligen Protagonisten war der schöngeistige Anarchist Gustav Landauer:
"Für Landauer bedeutete Revolution Neuschöpfung, eine in der Tat, permanente Revolution, eine revolutionäre Atmosphäre, aus diesem Ausnahmezustand heraus etwas Neues geschaffen werden könnte, was in der Tat programmlos war, inhaltslos, eine Bewusstseinsrevolution, eine kulturelle Revolution, eine Revolution des inneren Menschen, natürlich erst im Nachhinein oder im Laufe mehrerer Generationen sichtbar wird. Und ähnlich war es im Revolutionsbegriff der Kulturrevolution 1968 bei Rudi Dutschke und seiner Rede von dem `Marsch durch die Institutionen`."
Tatsächlich gewinnt die Revolution in den späten 1960er Jahren ihre verdeckte Strahlkraft zurück. Aber merkwürdigerweise über ein evolutionäres Muster, den Gedanken einer Demokratisierung, d.h. einer fortschreitenden Partizipation der Gesellschaft, wie Martin Sabrow deutlich macht.
"Das ist im Grunde die radikalisierte Fortsetzung von Willy Brandts `Wir wollen mehr Demokratie wagen` auf die Geschichte bezogen. Und darin gewinnt der Rätegedanke dann an Glanz."
Dritte-Welt-Revolutionen im Iran und Nicaragua
Doch mit der Globalisierung sollte auch die Revolution als `Bewegung von unten` wieder an Zugkraft gewinnen. Frank Bösch, Co-Direktor am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, hat in seinem gerade erschienenen Buch über "1979. Das Jahr der Zeitenwende", auf zwei Beispiele hingewiesen:
"Wirkliche Revolutionen, in denen breite Bewegungen von unten einen grundlegenden Wandel eines Regimes herbeigeführt haben, das gab es vor allem im Iran und in Nicaragua. Beides waren ganz unterschiedliche Revolutionen, waren ganz unterschiedliche Länder, aber dennoch gibt es ganz erstaunliche Ähnlichkeiten."
Beides waren Dritte-Welt-Revolutionen, die korrupte Herrscher wie den Schah von Persien oder das Somoza-Regime beseitigen wollten und einen Wandel des Landes anstrebten, der sich vor allem gegen die USA richtete. Und ihren Haupthandelsgütern kam die Globalisierung sehr entgegen – hie das Öl dort der Kaffee. Eine weitere Gemeinsamkeit - die starke Rolle der Religion – zum einen der Islam oder die Befreiungstheologie.
"Beides waren globale Revolutionen. Sie hatten breite länderübergreifende Netzwerke bereits, bevor die Revolutionen los gingen, waren es vor allem die Immigranten in den westlichen Ländern, die entscheidend gegen das Regime mobilisierten."
Seit 1989, dem Jahr des Epochenbruchs, ist in Deutschland von einer >friedlichen Revolution< die stolze Rede – den radikalen Systemwandel ohne Blutvergießen realisiert zu haben. Und gemäß der Strategie des zivilen und gewaltfreien Protests wurde der Umsturz in Osteuropa als "samtene Revolution" etikettiert. Doch Vaclav Havels Pressesprecher Michael Zantovsky redet lieber von einem "samtenen Ding" , weil er den allzu negativ besetzten Revolutionsbegriff scheut - in Erinnerung an die völlig traumatisierte Gesellschaft nach der Kulturrevolution 1966 in China oder die trüben Hinterlassenschaften der lateinamerikanischen Revolutionen in Kuba oder Nicaragua. Neben dem entschwundenen Glauben an einen verlässlichen Wandel nach dem Umsturz nennt Martin Sabrow einen weiteren Grund, weshalb Revolutionen aus der Mode geraten sein könnten:
"Die Revolution ist deswegen keine besonders anziehende Entwicklung mehr, weil wir Abschied genommen haben von einem Fortschrittsdenken, das über Radikalität, das über Revolutionen glaubt die Glückseligkeit der Menschheit zu erreichen. Diesem Glauben an das historische Gesetz folgen wir nicht mehr. Und deswegen haben Revolutionen als Topos ihre Mobilisierungskraft verloren."
Hat die Revolution ihren Zauber verloren?
Die Notwendigkeit von Revolutionen, hängt also auch von der Auffassung ab, ob es den linearen Fortschritt überhaupt noch gibt. Dazu der Politologe und Jurist Albrecht von Lucke:
"Erst die Revolution von 1789 bringt die Vorstellung mit sich, dass eine Revolution ein Akt der Modernisierung bedeutet, ein Akt des Fortschritts, ein Akt, der letztlich etwas Besseres schafft und aus dem Elend herausführt. Und ich glaube, heute sind wir bei einem Zeitpunkt angelangt, wo wir Revolution weit, weit weniger positiv begreifen. Also zugespitzt formuliert: Der Lack ist ab!"
Die Revolution hat ihren Zauber verloren, seit der Epochenbruch von 1989 mit der Verheißung vom Ende der Geschichte einherging. Danach hatte die Weltgesellschaft weitgehend ein ausbaufähiges Niveau erreicht - mit Menschenrechten, Demokratie und einer eingehegten Marktwirtschaft. Der Fortschrittsglaube schien ein Stück weit überholt. Doch die Verhältnisse haben sich seitdem rasant gewandelt und damit auch das Verständnis von Revolution. Albrecht von Lucke:
"Die Vorstellung, wir kommen durch Revolution in bessere Zustände, ist in gewissem Maße seit geraumer Zeit obsolet und alles, was wir unter Revolution in den letzten Jahren erlebt haben, ob wir in die arabische Welt schauen, wo große Hoffnungen geweckt wurden, wo anschließend aber eher der Rückfall in Tyrannei und Despotie und vielleicht stärkere Despotie als davor der Fall war. Oder in Europa, wo wir so etwas erleben wie Aushöhlung von repräsentativer Demokratie durch Formen des Populismus. Also all diese Vorstellungen, dass Revolution etwas Besseres hervortreibt, sind in den letzten Jahren massiv enttäuscht worden. Und dadurch hat sich der Zauber der Revolution massiv verloren. Im Gegenteil: Ich würde sogar meinen: Man erlebt Revolution als einen hochgefährlichen Begriff, der eher etwas Rechtes, etwas Reaktionäres hervortreibt, was keinen Fortschritt bedeutet, sondern einen Rückschritt in fatale, ältere, vielleicht bekannte vor demokratische Zeiten."
Der Zeithistoriker Frank Bösch teilt diese Skepsis nicht. Für ihn wird es auch weiterhin Revolutionen geben, solange in Zeiten der Globalisierung die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht:
"Revolutionen entstehen nicht, weil Leute arm sind, sondern weil arme Leute wahrnehmen, dass einige Geld in die eigene Tasche stecken, dass einige sich bereichern insbesondere an globalen Geschäften. Insofern werden wir in Staaten, die ölreich sind, wie Venezuela beispielsweise sicherlich weitere Aufstände erleben. Das Zeitalter der Revolution ist nicht vorbei, obwohl wir heute eigentlich eher beobachten, dass grundsätzliche Regimewechsel sich eher schleichend vollziehen. Zudem trägt die Globalisierung dazu bei, Proteste zu fördern."
Revolutionen sind Kinder ihrer Zeit
Derweil haben die revolutionären Helden von einst als Ikonen längst nicht ausgedient. Noch immer erscheint Ché Guevara auf T-Shirts und Tattoos von Jugendlichen – ungeachtet seiner totalitären Denke und Terrorakte. Das Foto mit der Baskenmütze samt rotem Stern, der Blick nach oben gerichtet, jesusgleich, mutig im Guerillakampf gestorben. Damals sang Wolf Biermann:
"Der rote Stern der Jacke/ der schwarze Bart mit der Zigarre/ Jesus Christus mit der Knarre/ So führt ein Bild und zur Attacke. /(Refrain:) Uns bleibt, was gut war und klar war/ Dass man bei Dir immer durchsah / Und Liebe, Hass, doch nie Furcht sah / Comandante Ché Guevara."
Diese Vorstellung, die Welt aus den Angeln heben zu können, mit dem Alten zu brechen und das Neue zu schaffen, sei gleichsam eine anthropologische Grundkonstante unter aktiven Jugendlichen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Meint Philipp Kufferath. Er geht revolutionäre Motive grundsätzlicher angeht.
"Hinter diesen Vorstellungen in der jüngeren Zeit von Menschen, die sich als Revolutionäre bezeichnen, steht , glaube ich, immer diese Hoffnung, dieser Wunsch, grundlegend die Welt zu verändern, was eine sehr euphorische, optimistische Herangehensweise ist, die eben von einer grundlegenden Unzufriedenheit gekennzeichnet ist. Und diese Motivlagen wird es immer geben."
"Ich denke, dass Revolutionen immer Kinder auch ihrer Zeit sind. Und wenn sie geschehen, also wenn das Ereignis einer Revolution eintrifft, dann in den seltensten Fällen so, wie man es erwartet hätte. Denn das ist vielleicht das Grundkennzeichen aller Revolutionen. Sie sind in dem Moment, da sie passieren, unwiderruflich und unwiderstehlich und auch unerhört, wie Hannah Arendt dies so schön formuliert hat. Und werden sich im Nachhinein erst als das herausstellen, was Revolutionen auszeichnet, insofern es sich um einen allumfassenden Wandel zu tun hat. Und vor dem stehen wir jetzt wieder in einer Situation, in der die Welt sich verändert. Nur ist es natürlich, wenn wir an eine Weltrevolution denken, viel schwieriger anzusetzen."
Meint Verena Wirtz. Wobei noch zu erörtern wäre, wie sich Revolutionen unter digitalen Bedingungen wandeln. Dazu gibt Philipp Kufferath zu bedenken, dass Industriegesellschaften, die nicht mehr autark existieren, den revolutionären Wandel in einem Land kaum vollziehen könnten, "wenn wir gleichzeitig auch Mediensysteme haben, die sich weltweit beobachten, wo im Grunde die revolutionären Akteure schon in der medialen Wahrnehmung sich inszenieren, weil sie wissen, das, was ich jetzt sage, wird in der ganzen Welt wahrgenommen. Das sind Veränderungen, die einerseits die Symbolkraft von Revolutionen weiterhin stärken, die gleichzeitig unwahrscheinlich machen, dass der Wandel sich auf Dauer in einem Land separiert vollziehen kann."