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Revolutionsangst

Seit einigen Jahren organisiert der russische Blogger und Video-Aktivist Artjom Loskutow die sogenannte "Monstration" - eine Kundgebung zum 1. Mai mit sinnentleerten Losungen wie "Is was?". Der Spaß soll dabei im Vordergrund stehen. Doch diesen verstehen die russischen Behörden offenbar nicht.

Von Gesine Dornblüth | 30.04.2011
    Novosibirsk, etwa vier Flugstunden östlich von Moskau. Ein weitläufiger Platz. In der Mitte auf einem Sockel: Lenin. Mit wehendem Mantel, den Blick streng nach links gerichtet. Ein paar Frauen schieben Kinderwagen, Jungs fahren Mountainbike. Der riesige Lenin, die weite Fläche, die Menschen wirken hier zwangsläufig klein. Artjom Loskutow reicht Lenin nicht mal bis zur Wade. Zu seinen Füßen hat Loskutow seine erste Protestkundgebung organisiert.

    "Wir haben Lenin ein Plakat mit einem Zitat von ihm um die Beine gebunden: 'Lernen, lernen und nochmals lernen.' Das war eine Aktion gegen die Einführung von Studiengebühren. Es sollte so aussehen, als sei Lenin der Organisator der Aktion, damit keiner von uns zur Verantwortung gezogen wird. Damals wurde ich das erste mal verhaftet und zur Polizeiwache gebracht. Drei Stunden musste ich dort bleiben und eine Geldstrafe zahlen."

    Das war vor sieben Jahren, Loskutow war damals 17 Jahre alt. Mittlerweile sind Zusammenstöße mit der Polizei für ihn Routine geworden.

    "Es gibt jeden Tag mehr als einen Anlass, um auf die Straße zu gehen und eine Bewegung zu gründen. Da kommt man gar nicht mehr hinterher.
    Die Milizionäre kennen mich schon. Die sagen: Ach, Loskutov, du schon wieder. Ich teste Grenzen aus. Einmal hatten wir eine Mahnwache angemeldet: Eine Solidaritätsaktion für einen Moskauer Rentner. Er war wegen angeblicher Übergriffe auf die Polizei zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt worden – völlig zu unrecht. Unser Transparent war zu groß, um es in die Tasche zu packen. Also trug ich es auf dem Heimweg offen vor mir her. Das war dann ein improvisierter Marsch, der nicht genehmigt war. Auch dafür bekam ich eine Strafe."

    Loskutow geht in ein Café, bestellt einen Milchkaffee. Der 24-Jährige hat mal Physik studiert, dann eine Ausbildung zum Kameramann gemacht. Er bezeichnet sich als Video-Aktivist. In staatlichen Strukturen will er nicht arbeiten, lieber filmt er Hochzeitsfeiern oder Auftritte von Künstlern. Davon kann er leben. In Moskau oder St. Petersburg werden Kundgebungen der Opposition in der Regel gar nicht erst genehmigt oder mit Gewalt aufgelöst.

    In Novosibirsk sei der Druck der Behörden subtiler, erzählt Artjom Loskutow.

    "Auf den Videos aus Moskau und St. Petersburg sieht man immer Polizisten, die in Kosmonautenanzügen hinter den Leuten her rennen und mit Gummiknüppeln auf sie einprügeln. Bei uns läuft das ganz anders. Wir haben hier einen Oberst, der seit anderthalb Jahren zu all unseren Aktionen kommt. Er sagt artig Guten Tag und lädt uns freundlich auf die Wache ein. Was wir jedes mal freundlich ablehnen. Im letzten Herbst rief er mich aber persönlich zu sich. Das war nach einem Halloween-Umzug zur Verteidigung der Versammlungsfreiheit. Da konnte ich nicht absagen. In seinem Büro saß ich in der Falle, er ließ mich erst am nächsten Tag wieder gehen. Er stellte Fragen wie: Warum macht ihr das? Wer bezahlt euch und wie viel?

    Die Polizisten denken in einer speziellen Polizisten-Logik. Demnach sind wir von unseren Feinden bezahlt und US-amerikanische, deutsche, tschechische, kanadische oder sonst was für Spione. Dann schlug er vor: Artjom, wollen Sie nicht irgendwohin fahren, wo es nicht so schlecht ist wie hier? Worauf ich sagte: Nein, ich möchte, dass es hier auch schön ist, ich will nirgendwo hin."

    Loskutow schrieb in seinem Blog über das Treffen mit dem Oberst. Das brachte ihm eine Beleidigungsklage ein. Das Verfahren läuft noch. Die Behörden beschlagnahmten seine Computer. Loskutow will sich davon nicht klein kriegen lassen. Auch in diesem Jahr bereitet er die "Monstration" zum 1. Mai vor, bereits zum achten Mal. Die Teilnehmer werden erneut mit absurden, inhaltsleeren Losungen durch die Straßen von Novosibirsk ziehen.

    "Als wir vor acht Jahren das erste Mal Plakate für den Umzug malten, meinte einer: 'Demonstration, das ist doch eigentlich ein komisches Wort, das hat etwas von Dekonstruktion, wie Industrialisierung und Deindustrialisierung, das klingt alles so negativ. Also ließen wir das "De" weg. Und hatten damit etwas Positives: Eine Monstration.

    Die Kundgebungen, die zum Beispiel die Kommunistische Partei zum 1. Mai organisiert, sind absolut peinlich. Die Kommunisten laufen immer noch mit den Losungen der Sowjetzeit herum, obwohl wir inzwischen in einem ganz anderen System leben. Manchmal sind ganze Belegschaften dabei, und auf ihren Plakaten steht einfach nur der Name der Fabrik, in der sie arbeiten. Das ist völlig sinnentleert. Wir wollen diesen Leuten einen Spiegel vorhalten."

    Das Konzept kommt an. Im letzten Jahr machten 2000 Menschen bei der Monstration mit. Das ist viel. Die Regierungspartei "Einiges Russland" bringt in Novosibirsk allenfalls wenige hundert Demonstranten auf die Straße. Und die Monstration hat bereits Nachahmer in anderen sibirischen Städten gefunden.

    "Wissen sie etwas darüber, wer kommt?" Vor allem junge Leute? Oder aus allen Generationen?"

    Loskutows Freundin kommt dazu. Mascha Kiseljowa ist 19 Jahre alt und studiert Design. Sie malt die Plakate für die Protestaktionen.

    "Mich interessiert das Künstlerische an diesen Aktionen. Da geht es um mehr als nur den Wunsch, etwas zu verändern. Ich kann mich da auch selbst verwirklichen."

    Die Mischung aus Kunst und Politik ziehe die Leute an, meint Mascha Kiseljowa.

    "Ich kenne viele Leute, die zur Monstration kommen, weil sie meinen, dass das keine politische Veranstaltung ist. Die haben die Nase voll von der Politik. Sie sagen, das ist ein schmutziges Geschäft, damit wollen sie nichts zu tun haben. Zugleich wollen sie sich äußern. Bei der Monstration können sie das – und gleichzeitig behaupten, sie seien unpolitisch."

    Die Bereitschaft der Russen, an Protestaktionen teilzunehmen, ist, russischen Umfragen zu Folge, gestiegen. Etwa 40 Prozent der Befragten können sich zur Zeit vorstellen, auf die Straße zu gehen. Im vergangenen Sommer waren es noch 30 Prozent. Je origineller und unterhaltsamer Protestaktionen seien, desto mehr Leute kämen, meint der Aktivist Artjom Loskutow.

    "Vielleicht überschätze ich meine Rolle, aber bei der Monstration haben sich Leute gefunden, die künftig auch für ernste Themen eintreten werden, anstatt Parteifahnen durch die Gegend zu tragen. Zum Beispiel gibt es in Novosibirsk jetzt eine Initiative für mehr Kindergartenplätze. ( ... ) Die Organisatoren haben bei uns erlebt, dass Protest Spaß machen kann ( ... ). Die Leute, die zur Monstration kommen, werden sich bei Bedarf auch für andere Ziele zusammen schließen."