Donnerstag, 28. März 2024

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Rezension "72 Tage - Die Pariser Kommune 1871"
Der blutige Bürgerkrieg um Paris

Die Pariser Kommune 1871 war ein revolutionärer Akt der unteren Bevölkerungsschichten und der Kleinbürger in der französischen Hauptstadt. Deren Herrschaft war gewaltsam und genauso wurde sie auch beendet. Ein Buch des Publizisten Thankmar von Münchhausen beschreibt das im Detail.

Von Michael Kuhlmann | 11.01.2016
    Am 18. März 1871 fanden sich viele überraschte Pariser in einer Stadt wieder, die ihre Gestalt verändert hatte. Dem Rechtsanwalt Henri Dabot aus dem Quartier Latin verschlug es die Sprache:
    "Als ich mein Fenster öffne, sehe ich am Eingang der Sorbonne die rote Fahne. Es ist wie ein Dolchstich ins Herz."
    Selbst auf der Kuppel des Panthéon wehte jene rote Fahne – sie war an die Stelle des vergoldeten Kreuzes getreten. Die Kommune, eine Bewegung aus Sozialrevolutionären und Sozialisten, beherrschte Paris. Der bürgerliche Schriftsteller Edmond de Goncourt beobachtete fassungslos, wie revolutionäre Milizen das Stadtbild prägten:
    "Man ist von Abscheu ergriffen, wenn man ihre stupiden, gemeinen Gesichter sieht, über die der Triumph und die Trunkenheit etwas wie strahlende Verworfenheit legen. Jeden Augenblick sieht man sie, das Képi schief auf dem Kopf, aus den Türen der Kneipen kommen. Auf dem Rathausturm eine rote Fahne und darunter das Gewühl einer bewaffneten Plebs hinter drei Kanonen. Für den Augenblick sind Frankreich und Paris im Griff der Arbeiter – die uns eine Regierung gegeben haben, die ausschließlich aus ihren Leuten besteht. Wie lange wird das dauern? Wir wissen es nicht. Das Unglaubliche herrscht."
    72 Tage Herrschaft der Kommune
    Bis ins Mark erschüttert war dieses Frankreich von 1871 – jenes Land, von dem Thankmar von Münchhausen in seinem neuen Buch 72 Tage erzählt. Der Krieg gegen Deutschland war verloren, die Wirtschaft lag am Boden; politisch kämpften Monarchisten, Republikaner und radikale Linke um die Macht. Das proletarische Paris stand gegen die konservative Provinz.
    Und in Paris selbst gab es krasse soziale Gegensätze: Der Großteil der Arbeiter lebte in bitterer Armut, von der Hand in den Mund. Diese Arbeiter selbst waren hochpolitisiert – sie waren auf die Kriegsparolen der Rechten hereingefallen und schäumten jetzt vor Wut, dass der bürgerliche Regierungschef Adolphe Thiers vor Deutschland kapituliert hatte.
    Da träumten viele davon, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem man eine Kommune errichtete. Hatte das 1792 nicht durchschlagend gewirkt? Hatte das revolutionäre Frankreich in jener Zeit nicht die Angriffe halb Europas zurückgeschlagen und zugleich im eigenen Land Monarchie und Aristokratie hinweggefegt, zumindest vorübergehend?
    Paris kochte. Für den wahren Zündstoff aber sorgte, dass es in der Stadt die Nationalgarde gab: 360.000 Mann stark; eine politisch unruhige Miliz, die sich vor allem aus Arbeitern und Arbeitslosen rekrutierte. Die Regierungsarmee zog sich geschlagen nach Versailles zurück. Am 18. März 1871 konstituierte sich der Rat der Kommune von Paris: eine Versammlung von Republikanern meist aus der unteren Mittelschicht, denen allerdings der charismatische Anführer fehlte. So zankten sich dort Gemäßigte und Radikale.
    Ausführliche Beschreibung der Diskussionen
    Thankmar von Münchhausen erzählt ausführlich, was nun in der Stadt vor sich ging: Die Militanten wollten nach Versailles marschieren, um die Regierung Thiers zu verjagen. Andere wollten sich noch einmal den siegreichen deutschen Besatzungstruppen entgegenwerfen, um Frankreichs Ehre zu retten. Eine dritte Gruppe wollte vom Krieg überhaupt nichts mehr wissen und propagierte die internationale Einheit der Arbeiter. Dabei machten die Radikalen überall potenzielle Feinde aus. Bald sahen sich die gemäßigten Pariser einer regelrechten Gesinnungsschnüffelei ausgesetzt. Das Ratsmitglied der Kommune, Eugène Protot, war fassungslos.
    "Jeden Tag bringen Unbekannte irgendwelche Leute zum Gefängnis, um sie einsperren zu lassen. Die Wärter behalten sie oder lassen sie wieder frei, ohne Befehl. Ich als Zuständiger erfahre kaum, was vorgeht. Ich habe in drei Wochen 680 Personen freigelassen. Die meisten waren ohne Begründung eingesperrt – viele aus persönlichem Hass. Wir dürfen uns nicht zu Mitschuldigen bei unbegründeten Verhaftungen machen."
    Aus Sicht der Regierung Thiers war die Kommune ein offener Aufruhr und so leitete man in Versailles einen Militärschlag gegen die Hauptstadt ein. Die Scharfmacher beider Seiten gewannen die Oberhand: Unter diesen Umständen entspann sich ein regelrechter Bürgerkrieg.
    Militärisch war die Pariser Nationalgarde der regulären Armee weit unterlegen und so eroberte diese Paris Stück für Stück zurück. Ganze Häuserblocks gingen in Flammen auf, aber diese Feuer legten vor allem Angehörige der Kommune. Sie zerstörten Gebäude, die das verhasste gegnerische System symbolisierten: den Tuilérien-Palast etwa. Und sie verbrannten die Bibliothek des Louvre mit 80.000 Bänden.
    Regierungssoldaten nahmen blutige Rache
    Freilich: In dieser blutigen Woche lebten die Regierungssoldaten ihren Hass aus. Offizielle Zahlen sprechen von 17.000 Getöteten aufseiten der Kommune. Thankmar von Münchhausen schließt:
    "Von Erschießung bedroht war jeder, der zur Kommune gehörte oder ihr nahestand, gleichgültig wie wichtig oder unwichtig er war. Mit Justiz, auch mit Militärjustiz, hatte das, was während der Rückeroberung und in den Tagen danach in Paris geschah, nichts zu tun. Es war ein organisiertes Morden durch die französische Armee, bei dem mehr Menschen ums Leben kamen, als Kämpfer hinter den Barrikaden standen. Die Truppe war getrieben vom Drang nach Vergeltung und von der Lust am Töten. Aber stets waren Offiziere in der Nähe, die Befehl und Beispiel gaben. Die politisch Verantwortlichen nutzten die Gelegenheit, die akute soziale Gefahr auf absehbare Zeit zu beseitigen."
    Thankmar von Münchhausen hat die Ereignisse rund um die Zeit der Kommune detailliert und gut lesbar geschildert: die Vorgeschichte im Kontext des deutsch-französischen Krieges, die Kommune selbst und den Bürgerkrieg mit seinen Folgen. Wohl kommt die analytische und wertende Seite in seinem Buch etwas zu kurz, teilweise geht sie in der geballten Faktendarstellung unter: Inwiefern gehört die Kommune noch in die Geschichte von 1789, 1830 und 1848? Inwiefern bereits zu den Revolutionen des 20. Jahrhunderts? Hier könnte man flankierend zum Buch "Die Pariser Kommune" des Hannoveraner Historikers Florian Grams von 2014 greifen. An anderen Punkten setzt von Münchhausen einiges Hintergrundwissen voraus. Dennoch und auch wenn die Ideen der Kommune momentan keine Konjunktur haben: Ihre 72 Tage sind in deutscher Sprache seit Langem nicht so detailliert beschrieben worden wie hier.
    Buchinfos:
    Thankmar v. Münchhausen: "72 Tage. Die Pariser Kommune 1871 – die erste "Diktatur des Proletariats", DVA, 528 Seiten, Preis: 24,99 Euro