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Richard Hughes
Ein gar nicht so unschuldiges Abenteuer

Der zuerst 1929 erschienene Roman "Orkan über Jamaika" von Richard Hughes ist in einer lesenswerten Neuübersetzung erschienen: Es ist ein herausragender Schmöker, aber auch eine psychologische Studie, die ohne beruhigende Antworten bleibt.

Von Michael Schmitt | 15.04.2014
    Autor Richard Hughes ("Orkan über Jamaika", 1938) sitzt an einem Tisch, Schwarz-Weiß-Fotografie, Dörlemann-Verlag
    Autor Richard Hughes ("Orkan über Jamaika", 1938) sitzt an einem Tisch. (Dörlemann-Verlag)
    "Emily hockte, um sich abzukühlen, bis zum Kinn im Wasser, und Hunderte von frisch geschlüpften Fischchen kitzelten mit ihren forschenden Mäulern jeden Zentimeter ihres Körpers wie mit ausdruckslos hingetupften Küssen."
    Dieses Mädchen ist zehn, fast schon elf Jahre alt, Tochter einer britischen Familie, die auf Jamaika eine verfallende Plantage bewirtschaftet. Man schreibt das Jahr 1866, die Kolonialherrschaft ist vorüber, Herrenhäuser und Zuckerfabriken siechen dahin, das Erbe des Kolonialismus ist noch überall zu spüren, unter den Schwarzen, die als Dienstboten arbeiten, genauso wie unter den Weißen. Doch die Grenzziehungen weichen auf. In manchen Häusern sind hilflose alte Gutsbesitzerinnen verhungert, weil die Dienstmädchen sie nicht mehr gepflegt haben. Im Urwald, der nirgendwo weit weg ist, leben Schwarze in selbst organisierten Dörfern. Und Kinder von Weißen und Schwarzen toben gemeinsam über die Höfe oder baden nackt in den Teichen, als hätte das Wort "Schicklichkeit" keine Bedeutung.
    Jamaika ist so gesehen für Kinder aus England ein Paradies, aber es ist eine melancholische Welt. Für die Erwachsenen gibt es keine Zukunft und für Emily endet allmählich die Kindheit. Noch hat sie zuhause eine Unzahl teils toter, teil lebendiger kleiner Tiere in ihrem Zimmer wie in einem Zoo und lebt wie ein Wildfang. Tief innen spürt sie jedoch, dass sich eine Verwandlung ankündigt, die sie unruhig macht, die ihr körperliche Berührungen wie die der kleinen Fische unangenehm werden lässt - die sie aber nicht versteht, und deren Rätselhaftigkeit das zentrale Thema von Richard Hughes berühmtem Roman "Orkan über Jamaika" ist. Es ist ein Abenteuerroman und insoweit ein herausragender Schmöker; es ist aber auch eine psychologische Studie, die keine beruhigenden Antworten auf ihre Fragen findet und deshalb die handlungstragenden Figuren, den Erzähler und die Leser mit einem leichten Grauen zurücklässt.
    Der Roman, den Michael Walter soeben für den Zürcher Dörlemann Verlag neu übersetzt hat - eine frühere Übersetzung von Annemarie Seidel ist 1999 weitgehend unbeachtet geblieben - ist Richard Hughes' berühmtestes Buch. Zuvor hatte er sich als junger Theaterautor und Lyriker versucht, doch erst "Orkan über Jamaika" macht ihn 1929 schlagartig bekannt. Wie später auch in Hughes zweitem Roman "In Bedrängnis" - der Geschichte eines Frachtschiffs und seiner Mannschaft während eines karibischen Hurrikans - wird die Geschichte von Emily zunächst von einem Sturm in Gang gesetzt. Ein Taifun verwüstet Jamaika und einige Familien beschließen, ihre Kinder zu deren Sicherheit und für eine bessere Erziehung nach England zu schicken. Diese Kinder, manche noch sehr klein, haben meist noch gar nicht verstanden, was wirklich um sie herum passiert ist; und auch Emily hält ein harmloses Erdbeben, das sie kurz zuvor erlebt hat, für viel einschneidender. Über England wissen sie zumeist nichts, als sie die Überfahrt antreten, ein Schiff ist nur eine andere Art von Abenteuer. Dann aber wird der Schoner, auf dem die Kinder reisen, von Piraten gekapert, er wird geplündert und die Kinder werden an Bord des Piratenschiffes gebracht. In den Berichten, die die Eltern und die Zeitungen erreichen, heißt es, sie seien umgebracht worden. In Wahrheit aber kreuzen sie von da an mehrere Monate lang mit den Piraten zwischen den Inseln, auf der Suche nach Beute, vor allem aber fern von den Routen der britischen Kriegsmarine.
    Zwischen den Piraten und den Kindern entwickeln sich schnell eigentümlich angespannte, aber nicht unfreundliche Beziehungen - vor allem zwischen Emily und dem Kapitän, der aus dem Mädchen niemals klug wird. Die Kinder machen das Schiff zu ihrem Spielplatz, manche verstehen nicht, dass sie unter Kriminellen gelandet sind, ein Bruder von Emily stirbt beim Herumtoben in der Takelage und wird umgehend und für immer von allen vergessen. Es scheint, dass diese Kinder alles, was sie gekannt haben oder kennen lernen, umgehend und spurlos auch wieder hinter sich lassen können, als lebten sie in einer Art von gewissenloser Freiheit des Augenblicks, vielleicht auch in einem stetigen Prozess unaufhaltsamer Umwandlungen. Dass das dramatische Folgen haben wird, steht in diesem Roman von Beginn an außer Frage. Als beim Beutemachen ein Gefangener der Piraten auf deren Schiff getötet wird, ist Emily die entscheidende unselige Figur, vielleicht ein Opfer verborgener Ängste, vielleicht aber auch ein kleines Biest, das nichts dagegen tut, als die Schuld jemand anderem in die Schuhe geschoben wird und am Ende die Piraten buchstäblich die Köpfe dafür hinhalten müssen.
    Emily ist kein Kind mehr, aber sie ist auch noch keine angehende junge Frau, wie es etwa eine Dreizehnjährige ist, die auch zu den Verschleppten gehört und vor den Piraten sehr auf der Hut zu sein scheint. Emily ist noch so jung, dass jeder sie für harmlos hält - aber ist sie vielleicht schon alt genug, um verschlagen zu sein? Keiner weiß es, sie selbst womöglich am wenigsten. Und die Piraten sind ohnehin viel zu einfältige Gesellen, um sich komplizierte psychologische Zusammenhänge auch nur vorstellen zu können. Sie sind vor allem Modernisierungsverlierer, genauso wie die Plantagen auf Jamaika. Sie wirken gefährlich und zehren von einem Mythos, aber ihr kleines Schiff hat keine Kanonen, kann sich also auf keinen Kampf einlassen; und die mit Dampfmaschinen betriebenen Frachter fahren dem alten Segler meist schon mühelos davon. Unter diesen Piraten zu leben ist für die Kinder kaum mehr als die Fortsetzung der Spielereien an Land - nur: anders als Zuhause wird aus diesem Spiel ein blutiger Ernst, der alle Beteiligten überfordert, weil die Spielregeln zuletzt durch die britische Justiz bestimmt werden.
    "Orkan über Jamaika" lässt sich - sehr zugespitzt - als kurze intensive Geschichte darüber lesen, wie die Menschheit vom Stande einer gewissermaßen Rousseau'schen Naturhaftigkeit in den der fortgeschrittenen Zivilisation übergeht, wobei es niemals unschuldig zugeht und viele Opfer gefordert werden. Emilys Weg vom wilden zehnjährigen Mädchen zur elegant gekleideten elfjährigen Schülerin, als die sie am Ende auftritt, beschreibt diese Entwicklung im Kleinen; sie ist ein gefährliches Kind - aber ist nicht auch jede Form von Gesellschaft ein gefährliches Terrain? - und die Zeit unter den Piraten ist so etwas wie ihre Verpuppungsphase, ein Kokon, den weder der nüchterne Erzähler noch ihr irritierter Vater jemals durchdringen werden.
    Richard Hughes: "Orkan über Jamaika". Roman. Deutsch von Michael Walter, Dörlemann Verlag, Herbst 2013