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Richard Maxwell inszeniert "Really"
Fotografie und Verlust

Richard Maxwell gehört zu den wichtigsten experimentellen Theaterregisseuren der USA. In seiner New Yorker Inszenierung von "Really" geht es um eine Fotografin. Der Raum wird zur großen Lochkamera, das Publikum sitzt genau dort, wo das Bild und die Erinnerung entstehen.

Von Andreas Robertz | 30.03.2016
    Fotoapparat s/w
    Die Protagonistin in "Really" drückt sich nicht durch Sprache, sondern durch die Fotografie aus. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    In dem Stück "Really" der amerikanischen Autorin Jackie Sibblies Drurys bereitet eine junge, schöne Frau ihr Fotostudio für ein Shooting vor. Sie lässt sich Zeit, richtet das Licht, legt einen Film in ihre Kamera ein. Eine ältere Frau tritt ein und setzt sich. Sie redet pausenlos: über zu hohe Mieten, das schöne Fotostudio, das Älterwerden und Tage, an denen sie kein Wort sagt. Ihre Redseligkeit verrät ihre Einsamkeit.
    Ein vages Schuldgefühl
    Man erfährt, dass sie die Mutter des verstorbenen Freundes der Fotografin ist. Ihr Sohn, der ebenfalls Fotograf war, habe schon als kleines Kind einen Hang zur Kunst gehabt. Im höflichen Plauderton erzählt sie herablassend, dass er sich schon immer gerne mit Hübschem umgeben hat. So, wie die Jungs halt sind, sagt sie, als wäre die Freundin nur ein Spielzeug für ihn gewesen. Manchmal blitzt offene Feindseligkeit in ihren Sätzen auf, dann wieder ein vages Schuldgefühl und am Ende der Wunsch, mit alldem nicht allein zu sein. Die Fotografin fotografiert schweigend. Auf die Fragen der Mutter antwortet die Frau einsilbig und vage: "kind of, sort of, I guess, maybe", als wäre sie im Grund lieber allein. Als die Mutter sie danach fragt, schaut sie sie lange an, als habe sie Recht, dann sagt sie "Nein". Sätze werden mittendrin abgebrochen, neu angesetzt, verworfen. Ihre Sprache ist der Akt des Fotografierens.
    Ein dritter Darsteller tritt als Sohn auf, beginnt Fotos von der Fotografin zu machen, mal redet er mit ihr, dann wieder nur mit seiner Mutter. Szenen verschieben sich ineinander wie Erinnerungen.
    Regisseur Richard Maxwell gibt seinen Akteuren wohltuend viel Zeit, das Unaussprechliche zwischen den Sätzen zu suchen, lässt sie den Text distanziert, ja fast unpersönlich sprechen, als wäre er nur ein Hilfsmittel, mit dem man etwas Verlorengegangenes im Dunkeln wiederfinden könnte. Elegant verknüpft er dabei die erinnerten Szenen mit der aktuellen Begegnung der beiden Frauen; Erinnerung und Gegenwart fließen so ineinander, finden immer schon gleichzeitig statt. Gedankenverloren schaut die jeweils unbeteiligte Person zu, als hänge sie selbst einer Erinnerung nach.
    Ein Theater im Theater
    Bühnenbildner Michael Schmelling hat für "Really" ein Theater im Theater gebaut, eine große Holzbox, in der Publikum und Bühne Platz finden. Für die letzte Szene zwischen Mutter und Sohn verlassen die Darsteller dann die Box und man sieht im völlig abgedunkelten Raum die Szene durch ein kleines Loch an der Rückwand spiegelverkehrt und auf dem Kopf auf die Vorderwand projiziert. Der Raum wird zur Lochkamera, ist eine große Kamera Obscura, und das Publikum sitzt genau dort, wo das Bild, die Erinnerung, entsteht.
    Auf die Frage nach ihrer Arbeit antwortet die Fotografin einmal, indem sie von ihrem neuen Projekt erzählt, das sich um Intimität dreht. Die Session mit der Mutter ihres Freundes ist ein Teil davon; die Erinnerungen, das Publikum und der ganze Raum anscheinend auch.
    Langer Applaus für einen philosophisch zärtlichen Abend über das Abwesende, die Erinnerung und die Bilder, an denen man sich festhält.