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Richard Wagners Götterdämmerung als Untergangsvision

In der zweiten Folge der fünfteiligen Serie "Endzeit-Szenarien" wird Wagners Götterdämmerung als Untergangsvision vorgestellt.

Von Michaela Fridrich | 06.05.2012
    Unterm Namen Erlösung wird die Negativität und die Negation der bürgerlichen Welt unterschiedslos für positiv ausgegeben. Der Weltuntergang am Ende des Rings ist zugleich ein Happy End. Der Schluss der Götterdämmerung und der von Gounods Wagner mit Recht verhasstem Faust, wo Gretchen als Christengel über die Dächer der deutschen Mittelstadt schwebt, sind im Grunde gar nicht so verschieden. Die Wagnersche Erlösung ist die letzte Phantasmagorie. Anstelle der Transzendenz setzt sie das Trugbild des fortlebenden aufschwebenden Subjekts, das flüchtig entspringt im Augenblick von dessen Vernichtung. In der innersten Zelle der Erlösungskonstruktion wohnt das Nichts.

    Mit beißender Ironie kritisierte hier Theodor W. Adorno in seinem Versuch über Wagner das Finale der Opern-Tetralogie Ring des Nibelungen von Richard Wagner. Ihm missfiel das musikalische Erlösungspathos, mit dem der Komponist Untergang und Vernichtung auf der Bühne im Sinne einer positiven Utopie verklärte. Adornos Kritik an Wagner und seinem Musiktheater war aber auch grundsätzlicher Art. So lösten Wagners an vielen Stellen offen antisemitisch geprägte Schriften bei ihm eine tiefe Abscheu aus.

    Und Wagners Musik erschien Adorno in ihrer Rauschhaftigkeit sowie ihrer Verherrlichung düsterer menschlicher Triebkräfte als Ausdruck einer verabscheuungswürdigen Inhumanität. Für Adorno waren der Künstler und sein Schaffen nicht zu trennen. Im konkreten Beispiel des Finales der Götterdämmerung, die den letzten Dramenteil der Ring-Tetralogie darstellt, ist das Happy End, das Adorno Wagner vorwirft, allerdings ebenso fraglich wie der Weltuntergang, der sich angeblich auf der Bühne vollzieht.

    "Ruhe, ruhe du Gott!" ruft Brünhilde in ihrem Schlussgesang dem obersten Gott Wotan zu, um dann das Feuer zu entfachen und das apokalyptische Geschehen in Gang zu setzen: Brünhilde sprengt mit ihrem Pferd in den brennenden Scheiterhaufen zu Siegfried, ihrem getöteten Gatten. Über die Glut der Brandstätte ergießen sich die Fluten des Rheins, wodurch das Gold des Rings an Brünhildes Finger, durch das Feuer vom Fluch gereinigt, zu den Rheintöchtern zurückkehrt. Schließlich wird das brennende Walhalla, der Wohnsitz der Götter, im Hintergrund sichtbar. Ist das als ein Untergang der Welt zu verstehen?

    Was Nibelungenring nicht ist: ein Mythos von der Welt Anfang und Ende. Dass der Schluss das Ende einer Welt ist, nicht das Ende der Welt, hat Carl Dahlhaus schlüssig nachgewiesen, es gibt dazu nichts zu ergänzen. Walhall stürzt zusammen, die Halle der Gibichungen brennt, der Rhein holt sich sein Gold zurück - das ist alles; kein Ende der Welt ereignet sich.

    In seiner berühmten Leipziger Inszenierung aus den 1970er-Jahren ließ Joachim Herz nach den apokalyptischen Ereignissen im Finale der Götterdämmerung während des musikalischen Nachspiels die mit weißen Tüchern verhängte Bühne in hellem Licht erscheinen. Darin waren jene Menschen zu sehen, die dem Geschehen zuvor als staunende Beobachter beigewohnt hatten.

    Der 2010 verstorbene Regisseur hatte sich dafür entschieden, in seiner Interpretation nicht den Untergang, sondern den Neuanfang zu akzentuieren: Auf den Trümmern der alten sollte sich die Entstehung einer neuen Welt bereits abzeichnen, zumal die Götterdämmerung ja nur das Ende der Götterwelt, keineswegs aber das Ende der Welt als Ganzes vorsieht.

    Die Frage wie der Schluss des Werks zu interpretieren sei, ist eine der Schlüsselfragen bei der Deutung der Ring-Tetralogie. Richard Wagner selbst war in dieser Hinsicht mehr als unentschlossen und hatte bis zur endgültigen Fertigstellung des Rings im Jahr 1874 mehrere Texte für den finalen Gesang Brünhildes verfasst und wieder verworfen. Bereits im Revolutionsjahr 1848 sind erste Gedanken Wagners zu diesem Stoff in einem Prosaentwurf zur Nibelungensage schriftlich dokumentiert. Im selben Jahr entstand auch die Dichtung zu Siegfrieds Tod - so hieß anfangs das Bühnenstück, das der Komponist erst später in Götterdämmerung umbenannte.

    Siegfried erscheint in dieser ursprünglichen Fassung als die zentrale Figur des Dramas. Sein Tod soll die Welt der Götter vom Fluch des Goldes erlösen und so einen Neubeginn der Welt möglich machen. Wagner verwirklichte in dieser ersten Fassung eine Vorstellung, die der revolutionären Haltung jener Zeit entsprach. Damals schrieb Wagner auch seinen Text Die Revolution, der 1849 in den Volksblättern seines Freundes August Röckel veröffentlicht wurde.

    Wie ein ungeheurer Vulkan erscheint uns Europa, aus dessen Krater dunkle, gewitterschwangere Rauchsäulen hoch zum Himmel emporsteigen und, alles rings mit Nacht bedeckend, sich über die Erde lagern, während bereits einzelne Lavaströme, die harte Kruste durchbrechend, als feurige Vorboten alles zerstörend sich ins Tal hinabwälzen. Eine übernatürliche Kraft scheint unseren Weltteil erfassen, aus dem alten Geleise herausheben und in eine neue Bahn schleudern zu wollen.

    Ja, wir erkennen es, die alte Welt, sie geht in Trümmer, eine neue wird aus ihr entstehen, denn die erhabene Göttin Revolution, sie kommt dahergebraust auf den Flügeln der Stürme, das hehre Haupt von Blitzen umstrahlt, das Schwert in der Rechten, die Fackel in der Linken, das Auge so finster, so strafend, so kalt, und doch, welche Glut der reinsten Liebe, welche Fülle des Glücks strahlt dem daraus entgegen, der es wagt, mit festem Blicke hineinzuschauen in dies dunkle Auge!"

    In Richard Wagners Werken verschwimmen die Grenzen zwischen Theorie, Kunst und Agitation. So stilisiert der Künstler in seiner Schrift Die Revolution die europäischen Ereignisse des Jahres 1848 zu einer mythischen Erzählung. Umgekehrt wirkt seine Bühnendichtung Siegfrieds Tod, der Vorläufer der Götterdämmerung, zuweilen wie ein Kommentar zum realen revolutionären Geschehen.

    Etwas kurios mutet es allerdings an, dass Wagner in dieser ersten Konzeption des Nibelungendramas seine Bühnenparabel der revolutionären Hoffnungen mit der alle Widersprüche aufhebenden Alleinherrschaft Wotans beschließt: So führt Brünhilde am Schluss den wiederauferstandenen Siegfried als Erlöser vom alten Recht und alter Schuld dem Gott zu und verheißt ihm dank Siegfrieds Opfertod ewige Macht.

    Die Widersprüchlichkeit dieses Dramenschlusses war Wagner nicht entgangen. Sollten das "alte Recht", das Wotan durch ein kompliziertes Vertragswerk zur Sicherung der eigenen Macht symbolisierte, und die "alte Schuld", nämlich Wotans Frevel an der Natur durch die Verletzung der Weltesche, tatsächlich ausgelöscht werden, musste die Götterwelt untergehen.

    In den Jahren bis 1852 veränderte Wagner den Schluss des Dramas in diesem Sinne, wobei er das Ende der Götter der Selbstbestimmung Wotans überließ: Um der Freiheit des neuen Menschen willen beschließt der Gott selbst das Ende seiner Welt, der Brand Walhalls als szenisches Ereignis besiegelt diese Lösung. Auch die revolutionären Visionen Wagners gewannen im Drama so deutlich an Kraft. In dem Gruß, den die Göttin Revolution in Wagners gleichnamiger Schrift Die Revolution an ihr Publikum richtet, ist dieser Schluss bereits vorgezeichnet:

    Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus allen nur Unglückliche. Zerstören will ich die Ordnung der Dinge, die Millionen zu Sklaven von Wenigen und diese zu Sklaven ihrer eignen Macht, ihres Reichtums macht. Zerstören will ich diese Ordnung der Dinge, die den Genuss trennt von der Arbeit, die aus der Arbeit eine Last, aus dem Genusse ein Laster macht, die einen Menschen elend macht durch den Mangel und den anderen durch den Überfluss.

    Die Einflüsse, mit denen sich der Revolutionär Richard Wagner um 1850 in seinem Schaffen auseinandersetzte, sind unverkennbar. Die Ideen Ludwig Feuerbachs spielen darin eine wichtige Rolle sowie die Bekanntschaft des Komponisten mit der Persönlichkeit und dem Werk Michail Bakunins. Die politische Deutung des RingDramas lässt in seiner frühen Fassung zudem eine Kapitalismuskritik im Sinne von Marx und Engels zu. Dieser Interpretation neigte der Wagnerverehrer George Bernard Shaw zu.

    Tatsächlich legt auch der Schluss von 1852 eine solche Deutung nahe: "Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht" singt Brünhilde da und entwirft schließlich das Bild des neuen Menschen, der in der Liebe seine Bestimmung findet: "Selig in Lust und Leid lässt - die Liebe nur sein."

    Diese Fassung, die die Liebe als Bedingung neuen Lebens ins Drama integriert, ist einer grundsätzlichen Änderung der dramatischen Konzeption durch Wagner geschuldet. Im Verlauf seiner Arbeit an Siegfrieds Tod hatte der Komponist erkannt, dass zur umfassenden Darstellung seiner Ideen auch die Vorgeschichte erzählt werden musste. So erweiterte er das Bühnenwerk zunächst um das Stück Der Junge Siegfried und schließlich auch noch um die Teile Rheingold und Walküre zur Tetralogie.

    Das hatte zweierlei zur Folge. Zum Einen bestimmte der Fluch Alberichs im Rheingold den Fortgang der Handlung: Um der Macht willen, die ihm das Rheingold bringt, verflucht Alberich die Liebe. Im Moment da er den daraus geschmiedeten Ring durch Götterlist verliert, belegt er auch diesen mit einem Fluch. In der Götterdämmerung verlieren die Flüche durch die Rückgabe des Goldes an die Rheintöchter und durch die Akzentuierung der Liebe als neuem Gesetz ihre Wirkung.

    Die zweite Konsequenz der Erweiterung des ursprünglichen Siegfried-Dramas zur Ring-Tetralogie war die Entfaltung der Göttergeschichte, die nun neben der Heldentragödie ebenfalls nach einer geeigneten Auflösung drängte.

    Der Fortgang des ganzen Gedichtes zeigt die Notwendigkeit, den Wechsel, die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die ewige Neuheit der Wirklichkeit und des Lebens anzuerkennen und ihr zu weichen. Wotan schwingt sich bis zu der tragischen Höhe, seinen Untergang - zu wollen. Dies ist alles, was wir aus der Geschichte der Menschheit zu lernen haben; das Notwendige zu wollen und selbst zu vollbringen. Das Schöpfungswerk dieses höchsten, selbstvernichtenden Willens ist der endlich gewonnene furchtlose, stets liebende Mensch: Siegfried, vor diesem Menschen muss alle Götterpracht erbleichen!

    In einem Brief an seinen Freund August Röckel aus dem Jahr 1854 erläutert Wagner den Zusammenhang zwischen Götter-Mythos und Heldendrama in seinem neuen Konzept der Ring-Tetralogie. Siegfried, frei von Furcht und von Liebe erfüllt, stellt als der neue Mensch den Lohn für Wotans Selbstvernichtung sowie den Untergang der alten Welt dar.

    Das erscheint zunächst als eine Umkehrung der ursprünglichen Idee, die den Opfertod Siegfrieds zur Voraussetzung einer von Schuld erlösten, neuen Götterwelt macht. Doch auch in der Fassung aus den frühen 1850er Jahren muss Siegfried sterben. In der schließlich auskomponierten Version wird Siegfrieds Tod durch den berühmten Trauermarsch musikalisch vergegenwärtigt.

    Wagner war die Negativität des doppelten tragischen Ausgangs im Tod Siegfrieds sowie im Untergang der Götterwelt bewusst. In dieser Situation inspirierte seine Lektüre von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung Ende des Jahres 1854 wieder eine neue Deutung. Wagner betonte fortan, durch Schopenhauer den wahren Sinn seiner eigenen Schöpfung erst erkannt zu haben. Aus der Idee der Selbstvernichtung der Götter zugunsten eines freien Menschen wurde nun die Verneinung des Willens zum Leben, die Sehnsucht nach dem Tod als einzig möglicher Erlösung nicht nur der Götter, sondern auch der Menschen.

    In diesem Sinne veränderte Wagner den Schluss der Götterdämmerung erneut. In einer Prosaskizze aus dem Jahr 1856 stellt Brünhilde die Überlebenden der Tragödie vor die Wahl einer Wiedergeburt oder - die weit erstrebenswertere Variante - einer Erlösung von jeglicher Wiedergeburt. In der Bühnenfassung heißt es dann schließlich noch: "Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloss die Augen mir auf: Enden sah ich die Welt."

    In Bezug auf das Politische konzentriert sich die Debatte üblicherweise auf die Verschiebung am Ende der Götterdämmerung: Von Feuerbach zu Schopenhauer, von der revolutionären Proklamation einer neuen Humanität, befreit von der unterdrückenden Rolle der Götter und endgültig für ein Genießen der Liebe frei zur reaktionären Resignation und Nichtanerkennung des Lebenswillens - in einem Fall ideologischer Mystifikation bläht Wagner die Niederschlagung der Revolution und seinen Verrat an den revolutionären Ideen zu einem Ende der Welt selbst auf.

    Nichts weniger als das Ende der Welt proklamiert Richard Wagner in der RingFassung von 1856, die unter dem Eindruck seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer entstanden war. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek verurteilt die veränderte Sichtweise des Komponisten auf sein Werk als einen Verrat an den revolutionären Ideen, die die Entstehung des Rings ursprünglich inspiriert hatten. Doch obwohl Wagner in seinen Schriften nicht mehr davon abrückte, Schopenhauers Ideen als Deutungsrahmen seiner Dichtung darzustellen, veränderte er das Finale des mittlerweile von Siegfrieds Tod zu Götterdämmerung umbenannten letzten Teils der Ring-Tetralogie dennoch noch einmal.

    Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus kommt in seiner gründlichen Analyse des Götterdämmerungs-Finales zu dem Schluss, dass Wagners Bekenntnis zu Schopenhauer in Bezug auf seine Ring-Dichtung einer Selbsttäuschung gleicht. So verzichtete Wagner in den 1870er Jahren, als er die Musik zur Götterdämmerung komponierte, darauf, die von Schopenhauer beeinflussten Verse vom Ende der Welt zu vertonen. Genauso wenig griff er freilich die Worte "nicht Gut, nicht Gold" aus dem Schluss von 1852 wieder auf.

    Im Vergleich zu diesen beiden Varianten fällt der letztendlich vertonte Text durch seine nüchterne Einfachheit auf, die eine eindeutige Interpretation in die eine oder andere Richtung schwierig macht. Nachdem Brünhilde den Scheiterhaufen für Siegfrieds Leiche aufschichten ließ, richtet sie ihr Wort an Gott Wotan: Siegfried sei Opfer des Fluches und der Schuld geworden, die die Götter auf sich geladen hätten. Nun sei es an ihr, diesen Fluch durch Rückgabe des Goldes an die Rheintöchter auszulöschen. Mit den Worten "Ruhe, ruhe du Gott!" verabschiedet Brünhilde sich von Wotan.

    Obwohl es von Wotan keine große Klage gibt, zeigt Brünhildes letztes Lebewohl an ihn ,Ruhe! Ruhe, du Gott!', in die gleiche Richtung; als das Gold zum Rhein zurückgekehrt ist, darf Wotan endlich friedlich sterben. Wagners Lösung für Freuds Antagonismus von Eros und Thanatos ist also die Identität der beiden Pole:
    Liebe selbst kulminiert im Tod, ihr wahres Ziel ist der Tod, die Sehnsucht nach dem Geliebten ist die Todessehnsucht. Ist also dieses Drängen, das den Wagnerschen Helden heimsucht, das, was Freud den Todestrieb nannte?


    Nach Ansicht von Slavoj Zizek sind Brünhildes Abschiedsworte an Wotan so zu verstehen, dass dieser sich nun durch Siegfrieds und ihre Tat von Schuld befreit in Frieden dem Untergang der Götterwelt fügen kann. Die Frage nach dem Freudschen Todestrieb verneint Zizek, da dieser gerade den endlosen Wiederholungskreis des friedlosen Herumwanderns in Schuld und Schmerz darstelle. Einen solchen Tod erspart Wagner den göttlichen sowie menschlichen Protagonisten in der endgültigen Fassung seiner Ring-Tetralogie.

    Es bleibt die Frage, wie das auskomponierte Finale der Götterdämmerung zu verstehen sei: Ist das Ende ein endgültiges, die ganze Welt Umfassendes? Oder ist der Untergang der Götter zugleich der Beginn einer neuen besseren Welt? In der Ring-Dichtung gibt es mehrere Stellen, die mögliche Antworten andeuten: Von der kryptischen Bemerkung Erdas im Rheingold, alles, was sei, ende, bis hin zum finalen Schlussgesang Brünhildes und Siegfrieds am Ende des Siegfried-Teils, wo das Liebespaar in lachender Todesverachtung den Untergang der Götter beschwört.

    Den wichtigsten Hinweis liefert die Götterdämmerung selbst: In der einleitenden Nornenszene wird das Ende der ewigen Götter prophezeit. Fasst man den Sinn aller Textstellen zusammen, führt alles auf das Ende hin, das in der Finalszene als Bühnenhandlung im Brand Walhalls sichtbar wird. Das letzte Wort gilt jenem lyrisch ekstatischen Motiv, wofür der Musikpublizist Hans von Wolzogen die Bezeichnung "Erlösungsmotiv" prägte:

    Dass dieses Motiv im Grunde ein Feuerbach-Motiv ist, geht aus der Situation hervor, in der es uns im Nibelungenring begegnet, nämlich als Siegfrieds Kommen vorausgesagt wird. Hier wird eine Gegenkraft gegen Wotan beschworen.

    Vom Ursprung her war für Wagner der Nibelungenring die Geschichte von einer alten Ordnung, einem überlebten Gesetz und unter Schmerzen und Tragik wird die neue Menschheit geboren. Das war seine Grundkonzeption und so hat er`s auch zu Ende geführt. Die zwar nicht komponierten Feuerbach-Verse liegen dem ganzen Werk nachweisbar als poetisch-musikalische Idee zugrunde.

    In der Walküre, dem zweiten Teil der Tetralogie, erklingt das musikalische Motiv zum ersten und einzigen Mal, bevor es als klingende Quintessenz das Ring-Drama beschließt. Diesem musikalischen Gedanken wird im Allgemeinen eine zentrale Bedeutung zugesprochen. So hat Joachim Herz die Klänge im Hinblick auf seine Leipziger Ring-Inszenierung in den 1970er Jahren im Sinne der revolutionär geprägten, durch Feuerbach beeinflussten Ursprungsversion des Götterdämmerungs-Finales interpretiert. Mit den Worten "O hehrstes Wunder! Herrlichste Maid!" reagiert Sieglinde in der Walküre auf Brünhildes Ankündigung von Siegfrieds Geburt.

    Herz verstand das damit verbundene musikalische Motiv, das am Schluss der Tetralogie wiederkehrt, als ein Symbol des neuen Menschen. Da Siegfried aber im Finale als neuer Mensch nicht mehr zur Verfügung stand, mussten jene Überlebenden gemeint sein, die "in höchster Ergriffenheit" - wie es in Wagners Regieanweisung heißt - dem Untergang der Götterwelt beiwohnten.

    Es gibt durchaus Argumente für diese Deutung von Joachim Herz. So lässt Wagner in seiner Schrift Die Revolution Scharen von Menschen dem zerstörerischen Gruß der Göttin Revolution lauschen. "Lautlos auf den Knien", "in stummer Verzückung", wie Wagner es beschreibt, erinnert diese Menge an die Beobachter des Walhallbrandes.

    Nicht nur Joachim Herz deutete den Ring-Schluss im Sinne einer antikapitalistischen Revolution, sondern auch Patrice Chéreau in seiner legendären Bayreuther Produktion aus dem Jahr 1976. Der Schriftsteller Thomas Mann, der sich bei seinem Erklärungsversuch wie Herz auf den Bedeutungsgehalt des musikalischen Nachspiels stützte, kam in Bezug auf Wagners Absicht dennoch zu einem ganz anderen Schluss:

    Er hat in dem großen Werk, das wir wiedersehen wollen, den Fluch des Goldes gelehrt und die Machtgier zur inneren Umkehr geführt, sodass sie nur noch ihren freien Vernichter lieben kann. Seine wahre Prophetie ist nicht ,Gut noch Geld noch herrischer Prunk, nicht trüber Verträge trügender Bund', es ist die himmlische Melodie, die am Schluss der Götterdämmerung aus der brennenden Trutzburg der Erdherrschaft emporsteigt und in Tönen dasselbe verkündet wie das Schlusswort des anderen deutschen Lebens- und Weltgedichts: ,Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.'

    Thomas Mann verglich den Schluss der Ring-Tetralogie mit Goethes Faust-Drama und unterstrich so die herausragende kulturgeschichtliche Stellung von Wagners Opernwerk. Die "himmlische Melodie" deutete er dabei nicht als die Revolution einer neuen Menschheit, sondern als eine Versinnbildlichung des Liebesprinzips, das auch am Ende des zweiten Teils von Goethes Faust im Chorus mysticus anklingt.

    Tatsächlich lassen Sieglindes Worte vom "hehrsten Wunder", die in der Walküre mit dieser Melodie verknüpft sind, auch eine solche Deutung zu. Thomas Mann, der sich intensiv mit Wagner und dessen Werk auseinandergesetzt hatte, machte keinen Hehl daraus, dass er bei aller Bewunderung für das musikdramatische Oeuvre Wagners mit dessen theoretischen Schriften nicht viel anfangen konnte. So dienten seiner Ansicht nach neue Wahrheits-Erlebnisse dem Komponisten zu nichts weiter, als diese in seiner Kunst zum "höchsten Ausdruck" zu bringen und so den "tiefsten Eindruck" zu erzielen.

    Tatsächlich ist Wagners eigene Exegese des Ring-Schlusses so disparat, dass sie wenig erhellend erscheint. Das Werk muss sich also selbst erklären. Das erscheint im Fall der Götterdämmerung allerdings schwierig: Brünhildes Abschiedsworte lassen Wesentliches offen, auch für das Bühnengeschehen und besonders für die musikalische Schlussapotheose gibt es keine eindeutige Erklärung.

    Der dänische Filmemacher Lars von Trier, der für die Bayreuther Ring-Inszenierung im Jahr 2006 als Regisseur vorgesehen war, gab das Projekt bereits im Vorfeld auf, da dieses - so die offizielle Erklärung - seine Kräfte überstiegen hätte. Als Ergebnis seiner Beschäftigung mit Wagner hat er neben Konzeptentwürfen zu Walküre und zu Siegfried, auch einige allgemeine Gedanken im Internet veröffentlicht. Darin fordert von Trier, auf jegliche Deutungen von Wagners Werk zu verzichten.

    Meiner Ansicht nach muss man Wagner gefühlsmäßig erfahren. Das ist und war immer die Idee. Gefühle lässt man nur zu, wenn man das Medium als real akzeptiert. Siegfried, Wotan, Fafner, Brünhilde und alle Anderen sind echt und lebendig und bewohnen eine echte Welt. Vor allen Dingen sind sie KEINE Symbole oder Bilder oder Ausschmückungen oder Abstraktionen. Sie alle haben ihre Psychologien, aus welchen sich die Konflikte und daraus die Einfühlung und die Gefühle des Publikums ergeben. Es passt vielleicht, Wagners verblüffend menschliche Götter im englischen Industrialismus oder im Dritten Reich anzusiedeln, aber es macht nichts besser. Wir brauchen keine Parallelen! In Wirklichkeit sind die Parallelen geradezu verwirrend! Überlasst die Parallelen und die Interpretationen dem Publikum!

    Das Publikum soll sich Lars von Trier zufolge sein eigenes Bild machen und dabei durch die Inszenierung nach Möglichkeit nicht gestört werden. Was im ersten Moment wie eine Kritik am Regietheater anmutet, deutet in Wirklichkeit auf ein profundes Verständnis für Wagners Werk hin. Das belegt auch Lars von Triers rein sinnlich emotional motivierte Verwendung des Tristan-Vorspiels in seiner eigenen filmischen Untergangsvision Melancholia.

    Diese sehrend-schmerzliche Sehnsuchtsmusik Wagners erzeugt eine Atmosphäre, die den ästhetisch berückenden Bildern vom apokalyptischen Zusammenstoß der Erde mit einem verirrten Planeten ebenso gerecht wird, wie dem Chaos, das dieses herannahende Untergangs-Ereignis im Seelenleben der Menschen bloßlegt. Im Vergleich zu jenen Tristan-Klängen mutet der musikalische Schluss der Götterdämmerung ungleich friedvoller und gelöster an.

    Die Ruhe, die Brünhilde dem Gott Wotan wünscht, wird auch den Überlebenden am Schluss der Ring-Tetralogie nicht versagt. Eine konkrete Deutung erscheint da kaum noch notwendig. Jedenfalls hatte schon Thomas Mann erkannt, dass gerade das Werk Richard Wagners, das immer wieder unterschiedlichste Interpretationen inspiriert, dieser am allerwenigsten bedarf:

    Es ist müßig, große Männer aus der Verewigung ins Jetzt zu beschwören, um ihnen ihre - etwaige - Meinung über Probleme gegenwärtigen Lebens abzufragen, die ihnen so nicht gestellt waren und denen sie geisterfremd sind. Wie würde Richard Wagner sich stellen zu unseren Fragen, Nöten und Aufgaben? Dies ,würde' ist hohl und phantomhaft, es ist keine Denkbarkeit. Meinungen sind sekundär, schon zu ihrer Zeit; wie sehr sind sie es erst später! Was bleibt, ist der Mensch und das Produkt seines Kampfes, sein Werk. Begnügen wir uns, Wagners Werk zu verehren als ein gewaltiges und vieldeutiges Phänomen deutschen und abendländischen Lebens, von dem tiefste Reize ausgehen werden allezeit auf Kunst und Erkenntnis.