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Richtig Leben

Der Roman "Dirac" ist tief verwurzelt in Ideen und Zeitströmungen, die seit den 80er Jahren bis heute fortwirken. Es geht um die Frage nach dem gelingenden Leben. Lebenskonzepte von hohem Modellcharakter werden vorgeführt.

Von Werner Köhne | 15.01.2007
    Wie gelingt einem das Leben? Die Griechen beantworteten die Frage mit eu zän, dem guten Leben, das sich metaphysisch öffnet. Für eine verendlichte Moderne scheint derlei Horizont verblasst. Gleichwohl scheint die Frage nach dem richtigen Leben heute von einer Dringlichkeit, die fast hysterische Züge annimmt. Im kaum noch befragten Horizont unserer Existenz gelten Geld, Image und Selbstbehauptung als gelingende Faktoren. Im diskursiven Bewusstsein wird hingegen die Moderne als Krise erfahren. Spätestens seit Jugend nach dem großen Krieg eine eigene Kultur ins Leben rief, zählen zum gelungenen Leben Werte wie Coolness, Authentizität und eine generationsspezifische Selbstfindung.

    Der Schriftsteller Dietmar Dath hatte sein vorletztes Buch, ein tausendseitiges Konvolut, mit unzähligen Vorschlägen zum richtigen Leben im gesellschaftlich Falschen bestückt. Ästhetisch umgesetzt wurde das ehrgeizige Programm in Form eines Flickenteppich aus subjektiven Ansichten, fragmentierten Szenen, manchmal auch grellen Bildern. Anreize lieferte ein Freundeskreis, der sich in generationsspezifischen Codes bewegte. In seinem neuen Roman geht es weiter um die Frage nach dem gelingenden Leben, nun aber geschieht dies planvoller, konzentrierter, in einem strukturierteren erzählerischen Netzwerk.

    David, ein junger Mann mit literarischen Ambitionen, bewegt sich auf Spurensuche nach dem englischen Physiker Paul Dirac, der Ende der 20er Jahre mit Hilfe einer mathematischen Formel das Vorhandensein von Antiteilchen im Quantenspektrum beweisen konnte. Als Mensch fiel Dirac durch ein menschenfreundliches Verhalten auf jenseits gemeiner Kalküle. David sieht gar einen elementaren Zusammenhang zwischen Diracs in Reinheit getauchten mathematischen Forschungen und einer Lebensführung jenseits der zerknauschten Egotrips, in denen wir unser arbeitsteiliges Leben führen. Auch David scheitert schließlich daran, sein eigenes Arbeitsprojekt über Paul Dirac und sein alltägliches Leben in Einklang zu bringen.

    "In dem Buch geht es nun darum, dass David Dalek, das ist die Figur, die für mich steht, sich allerdings von mir in wichtigen Punkten unterscheidet, versucht, diesen modernen Alltag, diesen arbeitsteiligen Alltag, diesem elektronisch vereinsamten Alltag zu begegnen, indem er sich mit einer Figur beschäftigt, die eben dieses hingekriegt hat, und nicht zu erschlaffen und nicht zu zermürben, nicht zu verstummen, nämlich Paul Dirac, und es lustigerweise nicht schafft, nämlich nicht imstande ist, sein Arbeitszeug zum Gegenstand seiner Arbeit zu machen, und sich zum Beispiel von seinen Freunden, die zu seinem Arbeitszeug gehören, immer weiter entfernt während der Arbeit an dem Buch - und dadurch tatsächlich doch verstummt und dieses Buch nicht geschrieben kriegt."

    Im Roman Dietmar Daths werden Lebenskonzepte von hohem Modellcharakter vorgeführt. Die Frage ist, wie sich das erzählerisch so einlöst, dass mehr daraus wird als eine mutwillige Verkeilung von Erfahrung und Muster, Biografie und Wissenschaftsgeschichte. Zusätzlich wird der Roman durch mehrere Zeitebenen vorangetrieben. Die große Zeit Paul Diracs und auch der Physik überhaupt war das Ende der 20er Jahre , als Dirac mit Werner Heisenberg und Niels Bohr fast so etwas wie einen naturwissenschaftlichen Georgekreis entwarf - sozusagen an einem Morgen, als alle Dinge erwachten. Diese vor Ideen sprießende Zeit verbindet der Erzähler mit den 80er Jahren, als er als 15-Jähriger inmitten seines Freundeskreises sein "Morning has brocken" durchlebte, in einem Gymnasium in einem badischen Städtchen. Voll von überschäumender Coolness war man und voll wildem Denken, Kommunist natürlich auch, jenseits von gut und böse, antipädagogisch eingestimmt und trug auch die richtigen Klamotten. Gleichzeitig erlebte man diese Zeit als Krise, was den Autor zu einem Vergleich animiert.

    "Die Zeitdimensionen kommen insofern zusammen, als der Schlüsselbegriff tatsächlich die Moderne ist. Es geht ja in den 80er Jahren um eine Pädagogik, die auf die Leute eindrang, oder vorgefundene Lebensbedingungen, die auf die Leute eindringen. Es geht an ganz vielen Stellen um den Widerspruch, von wo man hineingeboren ist versus, sich selbst zu erfinden, zu erschaffen, sich selbst zu verändern. Und in der Tat, der Dirac als eine Schlüsselfigur der naturwissenschaftlichen Moderne ist ein Leben, in dem es gelungen ist. Insofern as above so below Makrokosmos und Mikrokosmos moderne Geschichte als an den Himmel projizierte größere Geschichte, was jede einzelne Geschichte, jeder einzelne Mensch für sich zu lösen versucht, nämlich, inwieweit kann ich mich selbst erschaffen, inwieweit bin ich verbesserbar, inwieweit bin ich läuterbar versus mit welchen Gewichten behangen, Marx sagt, der Alpdruck der toten Geschlechter, mit was schleppe ich mich ab?"

    Bei aller erzählerischen Ambitioniertheit folgen Romangeschehen und Personenschilderung doch eher einer übergeordneten Perspektive. Davids bester Freund ist Paul, ein genialer Computerfreak, der in vielem an den bewunderten Sal in Jack Kerouacs "on the road" erinnert, ein Prototyp der Jugendkultur. Auch Pauls Freundin Nicole, ein schönes geheimnisvolles Mädchen, folgt einem Muster. Für Paul, David und letztlich auch den Autor selbst wird sie in all ihrer sprachlos ausdrucksstarken Präsenz zum Ideal, die eigentlich komplementäre Figur zu Paul Dirac. Und da wäre sie wieder, die Idee vom guten Leben im komparatistischen Verfahren. Während der Wissenschaftler Dirac die Idee des guten Lebens kraft genialem klaren Denken verwirklicht, steht Nicole für die Reinheit eines unmittelbaren Lebens, das naturgemäß im falschen Allgemeinen scheitern muss.

    Die Philosophie Hegels lässt hier grüßen, und noch mehr die Kleists: Nur als kindliche Unschuld oder nach dem Durchschreiten der Reflektion gelingt einem das Dasein, tertium non datur.

    "Natürlich kann man Sachen finden, um zu sehen dass es eine Unmittelbarkeit gibt, erst eine primäre und dann eine zweite Unmittelbarkeit. Also es geht sehr viel um nicht mehr und noch nicht, die sozusagen auf den ersten Blick sehr ähnlich aussehen. Also durch eine Erfahrung durchgegangen sein und dadurch modern sein oder aber in eine moderne Situation hineingeboren zu sein und dadurch modern sein, das sind für mich sehr verschiedene Dinge. Aber in der Tat ist vieles sehr kreisförmig. Was Dirac und Nicole verbindet, ist eine gewisse Exzentrizität zu dem, was um sie rum passiert. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass dadurch, dass sie sich aus bestimmten Dingen raushalten, sie eigentlich mitten in die Dinge schauen können."

    Viel Theorie ist angezeigt, viel Projektion. Spiegelt sich darin ein Wesenszug, ein Dilemma unseres Lebens oder mehr?

    Dietmar Daths Roman ist tief verwurzelt in Ideen und Zeitströmungen, die seit den 80er Jahren bis heute fortwirken, zumal in der Art. wie man schreibt. Damals reüssierte der Popessay, den Autoren wie Diedrich Diderichsen und Maxim Biller zur Kunstform erhoben, zugleich aber auch als Ausdruck eines generationsspezifischen Lebensstils zelebrierten.

    "Das Interessante ist, dass man solche Dinge oft osmotisch aufnimmt, wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt schreibt. Das heißt, die Dinge sind unterirdisch verbunden. Und das ist vielleicht für die Kunst die schätzenwerteste Verbindung. Es läuft eben nicht so, das man alles liest, was Zeitgenossen schreiben, schon gar nicht auf Deutsch, und sich dadurch positioniert und bestimmte Distinktionen durchfechten möchte. Ich habe eine Rezension gelesen, wo tatsächlich jemand schrieb, also der Mann richtet sich gegen dies, gegen das. Und das sind natürlich Versuche sich abzusetzen. Sehr lustig, war mir so nicht bewusst, kann vielleicht irgendwie wahr sein. Aber das Lustige ist ja, dass bei dieser Art Analyse mehr vorstellbar scheint, das jemand etwas angreift, weil er es einfach nicht mag, und nicht nur um sich davon zu unterschieden, dass jemand ganz altmodisch eine Position einnehmen möchte.

    Das soll hier nicht bestritten, wohl aber angemerkt werden, dass spätestens in der Nach-68er-Zeit jede junge Generation in der tragisch zu nennenden Verpflichtung stand, ihre Position in der Abgrenzung von der vorhergehenden zu finden. Zeitgemäß erscheint auch ein weiterer Fluchtpunkt des Romans von Dietmar Dath: die tiefe Sehnsucht nach wissenschaftlichen Urszenen der Moderne. Inzwischen gibt es eine entsprechende Geschichte des Romans, die von Stan Nadolnys "Die Entdeckung der Langsamkeit" bis Daniel Kehlmanns "Die Vermessung der Welt" reicht. Die Fluchtlinien zielen auf eine Moderne, die noch unverstellt schien, jenseits des moddelling trough unserer Zeit

    "In der Tat muss es unglaublich befreiend gewesen sein, als es losging, sich auf eine neue Art die Welt zu erklären. Daraus kam ein Überlegenheitsgefühl, also wir können uns und unsere Welt ganz neu erschaffen, weil wir sie endlich verstehen, wie sie wirklich ist. Dieses Überlegenheitsgefühl hat dann einiges einstecken müssen. Die Frage ist jetzt: Kommt man an einen Punkt, wo man nicht mehr die Allmachtsansprüche gegen die alten Allmachtsansprüche der Religion richten muss, sondern wo man im Sinne von nicht mehr und noch nicht geläutert ist, durch das, was man seither erfahren hat und dann sagen kann, wir geben diese Konkurrenz auf? Die Vernunft, das Modern-Sein-Können, das Nicht-Leisten, was die Religion verspricht, aber da das niemand leisten kann und wir nicht besseres haben, versuchen wir es damit."