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Richtungslos

Das Gründerzeit-Miethaus, in dem Jeffrey Eugenides mit seiner Frau und seiner vierjährigen Tochter eine jener typischen Berliner Altbauwohnungen bewohnt, befand sich bis zu seiner Sanierung in einem äußerst maroden Zustand. In den oberen Stockwerken hatten Studenten ihre Zelte aufgeschlagen, in der Belle Étage befand sich ein Edelpuff und im Eckladen, heute ein Supermarkt, das dazugehörende Erotikkino - durchaus ein Ort, in dem einer seiner nächsten Romane angesiedelt sein könnte.

Von Cornelia Staudacher | 05.07.2004
    Denn Jeffrrey Eugenides hat einen Hang zu besonderen Themen und Spielorten. Es reizt ihn, den Leser mit ungewöhnlichen Lebensschicksalen zu konfrontieren, ihn in unbekannte Welten zu entführen und dabei immer auch ein wenig zu irritieren. Nicht zuletzt durch außergewöhnliche Erzählperspektiven, die er für seine Geschichten wählt. So ist der Erzähler in Middlesex, der breit angelegten Familiensaga, in dessen Zentrum Calliope, ein Hermaphrodit steht, das Gen, das den Ausschlag zur geschlechtlichen Transformation des Helden gibt. Die Geschichte der Selbstmord-Schwestern nun wird aus der Wir- Perspektive der Jungen erzählt, denen die tragischen Ereignisse, die sich vor Jahren direkt vor ihren Augen zugetragen haben, nicht aus dem Sinn gehen. Sie schien ihm die einzig richtige Perspektive zu sein,

    Denn ich mag es, in Romanen Erzähler anzutreffen, die man nirgendwoanders findet. Wenn man non-fiction liest, oder eine Zeitung, da gibt es eine Art autoritäre Einzelstimme und man versteht sie; religiöse Texte wie die Bibel haben einen Erzähler, der nicht lokalisierbar ist, man weiß nicht, von wo Gott spricht, seine Stimme sagt sehr wichtige Dinge, aber ihr Ursprung ist ein Geheimnis. Das mag ich und habe mir diese verwirrende Art für meinen Erzähler ausgeliehen, eine Stimme also, die den Leser ein wenig irritiert, weil er sich zunächst nicht vorstellen kann, wer da wirklich spricht. Es folgt aus dem Stoff; da es in dem Roman um eine Obsession, um den Voyeurismus der Jungen geht, braucht man eine Stimme aus der Gruppe der Jungen, die von dieser Obsession heimgesucht werden. Das gab der Geschichte Kraft, deshalb habe ich diese Erzählperspektive gewählt, die zu dem Stoff passt, um es einfach zu sagen.

    Worum geht es? Der Roman Die Selbstmord-Schwestern – der Originaltitel The virgin Suicides betont stärker den neutralen, sachlichen Blick des Wir-Erzählers – rekonstruiert den fünffachen Suicid der in einer kleinen, nicht namentlich genannten Stadt im Norden der USA lebenden Lisbon-Schwestern. Aufgewachsen in einer, wie man so schön sagt, intakten Mittelstandsfamilie, in einer Welt fester Konventionen, nehmen sich Cecilia (13), Lux (14), Bonnie (15), Mary (16) und Therese (17) innerhalb ein und des selben Jahres das Leben, weil es für sie keinen Sinn mehr zu haben scheint. Überbehütet, abgeschirmt vor der Außenwelt, "political correct", aber lieblos aufgezogen, stehen sie der Außenwelt ängstlich, abgestumpft und komplexbeladen gegenüber und sind nicht in der Lage, ihrem Leben eine Richtung und eine Bestimmung zu geben.

    Dabei kommt es dem Autor nicht in erster Linie darauf an, den Motiven der im Ort halbwegs angesehenen, mehr oder weniger attraktiven Schwestern nachzugehen. Was ihn interessiert ist vielmehr die Frage, wie die Zurückgebliebenen mit diesen Ereignissen umgehen, welche Spuren der Tod der Schwestern hinterläßt. Die Radikalität ihres Vorgehens ist eine Provokation für die Zurückgebliebenen und erzeugt Angst, denn sie offenbart eine generelle Ausgesetztheit und Ausweglosigkeit des menschlichen Daseins, vielleicht auch die Abhängigkeit des Menschen von unbekannten, nicht faßbaren Mächten. In Analogie zur Darstellung schicksalhafter Ereignisse in der antiken Tragödie erscheint es plausibel, die entsetzten, unwissenden und in ihrer Unwissenheit zu allerlei Spekulationen Zuflucht nehmenden Jungen, die als Erzähler fungieren, mit dem Chor der griechischen Tragödie zu vergleichen. Aus den Fragen, Erinnerungen und Rechercheergebnisse der Jungen baut sich die Handlung bruchstückhaft auf. Der Leser erfährt gerade so viel, wie die Jungen peu à peu eruieren.

    Es ist das Gegenteil vom allwissenden Erzähler. In "Middlesex" lasse ich meinen Erzähler so allwissend wie möglich sein und sich in jedwedes Kopf hineinversetzen. In "Die Selbstmord-Schwestern" enthält eine Menge narrativer Restriktionen; denn die Jungen können nur das erzählen, was sie von den Mädchen sehen, in den Zeitungen oder durch ein Interview mit irgendjemand über sie herausfinden. Das Buch will niemals in die Köpfe der Mädchen schauen und erzählen, was sie denken, das ist ein großer Unterschied. Die Jungen sagen, wir haben sie nie verstanden, sie haben uns hierher gebracht, um das herauszufinden, und je näher sie den Mädchen kommen, so werden sie dennoch niemals wirklich wissend aus der Sache herauskommen. Der Abstand zwischen ihrer Unkenntnis und dem absoluten Wissen wendet sich gegen sie.

    Im Gegensatz zu Middlesex ist der Roman Die Selbstmord-Schwestern, der sieben Jahre vor Middlesex auf dem Markt erschien, stärker gebündelt und konzentrierter, weniger ausschweifend, weniger überbordend vor Lebendigkeit und Witz. Während Middlesex ironisch changiert zwischen Tragik und einer zum Teil aberwitzigen Komik, wirkt der Roman Die Selbstmord-Schwestern aufgeräumter, abgezirkelter, organisierter, so, als habe der Autor ihm einen Plan unterlegt, den er Schritt für Schritt einhält.

    Der Roman erntete bei seinem Erscheinen in America 1993 viel Anerkennung. Für seinen internationalen Erfolg sorgte der von Sophia Coppola 1999 gedrehte Film, dem Eugenides ebenso seine Anerkennung zollt wie der Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat:

    Sie hatte das Script schon geschrieben, bevor sie die Rechte erhielt; sie schickte es mir und bat mich um die Beantwortung einiger Fragen, um Bemerkungen und Kritik.

    Ich erkannte durchaus mein Buch im Film wieder; was den Plot und die Atmosphäre angeht, hat sie sich recht treu an das Buch gehalten. Bücher und Filme sind sehr verschieden. Wenn man also einen Film macht, sind grundlegende Änderungen nötig, besonders ein Buch wie "Die Selbstmord-Schwestern", das realistisch ist, lebt von der Erzählerstimme, und diese Erzählerstimme ist nicht auf den Film zu übertragen, weil es ein Erzähler ist, der nicht wirklich körperlich existiert, und im Film ist jeder körperlich vorhanden. So verändert sich der Gesichtspunkt, aber es war nicht so, daß das Buch total geändert wurde, um es dem Hollywood-Standard anzupassen. So kam es mir nicht vor. Ich mochte den Film sehr, und ich mochte Sophia, weil sie respektvoll gegenüber mir und dem Buch war.


    Die im Film recht attraktiven Schwestern wirken im Buch eher unauffällig und unattraktiv, "ein wenig erdverbundener", wie Eugenides es formuliert. Nur Lux, die Zweitjüngste, trifft sich schon mit Jungen, beispielweise mit Trip Fontaine, der später behaupten wird, nie wieder habe es ihm "die Eingeweide mit so köstlicher Gewalt zerrissen". Insgesamt aber werden die Mädchen, die in ihrer seelischen Not verzweifelt auf der Suche sind nach Liebe, Zärtlichkeit und Verständnis, als scheu, gefühlsarm und gelegentlich auch arrogant geschildert. In ihrer Schicksalsergebenheit, emotionalen Unbeweglichkeit und geradezu statuenhaften Starre erinnern sie eher an antike Karyatiden als an menschliche Wesen. Nur einem, dem Vater, ist es erlaubt, emotional zu reagieren und seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen.

    An die grandios überbordende erzählte Welt aus Middlesex reicht der neue, alte Roman nicht heran. Gleichwohl legt er in seiner schaurig-schönen, von jugendlich-sorgloser Leichtigkeit und schicksalhafte Schwere gleichermaßen gezeichneten Aura Zeugnis ab für die Fabulierlust und Ausdruckskraft des Autors. Auch ein Rückgriff auf die eigenen griechischen Wurzeln, die sich in Desdemona, der griechischen Großmutter des Protagonisten in "Middlesex" so herrlich manifestieren, ist bereits im ersten Roman angelegt. Auch hier gibt es eine griechische alte, weise Frau, Mrs. Karafilis, Untermieterin im Haus Lisbon, die vielleicht ein wenig mehr versteht vom Leid und der ausweglosen Situation, in der sich die Mädchen fühlen, wenn sie ihnen in gebrabbeltem Griechisch rät, "Vergeudet eure Zeit nicht an das Leben."

    Irgendwie ist Desdemona aus Mrs. Karafilis heraus entstanden. Mrs. Karafilis war wohl die erste Figur in meinen Büchern, die auf meine griechische Herkunft zurückgeht; ich habe diesen kurzen Teil um Mrs. Karafilis mit Vergnügen geschrieben und viele Reaktionen bekommen; die Leser mochten sie, und das brachte mich auf die Idee, ein bißchen mehr über meine griechische Herkunft zu schreiben und zu erfinden, die von mir regelrecht abgeschnitten worden ist, denn ich lebe heute. Aber es interessiert mich schon. "Middlesex" ist in Griechenland erschienen und ist sehr beliebt; ich war mit dem Buch in Griechenland und werde wieder hinfahren, griechische Zeitungen baten mich um Beiträge. Es ist ganz eigenartig - ich lebe in America, seit zwei Generationen ist die Familie fort aus Griechenland -, daß ich in gewisser Weise durch mein Werk in das Land meiner Vorfahren zurückkehre, worauf ich es keineswegs angelegt hatte.

    Wie sehr sich Eugenides‘ Romane im Spannungsfeld zwischen Postmodernismus und Traditionalismus befinden, wird auch in Die Selbstmord-Schwestern deutlich. Auf der einen Seite erzählerisch ausschweifend wie die großen Novellisten des 19. Jahrhunderts, erweist sich doch auch der Debütroman in seiner zwischen Tragik und Komik nervös changierenden Aura, die an die frühen Filme des spanischen Regisseurs Almodovar erinnert, und seinem collagehaften Wechsel der Zeitebenen als ausgesprochen postmodern.

    Wir wuchsen in einer Zeit auf, als der Postmodernismus auf seinem Höhepunkt war, und lasen zunächst die Meister des Modernismus wie Joyce oder Faulkner, und später dann Thomas Pynchon, und so waren, als wir zu schreiben anfingen, die Modelle, denen wir zu opfern versuchten, die Modernisten; das Bewußtsein wurde gebrochen, der allwissende Erzähler wurde abgeschafft, Diskontinuität war Pflicht. Später lasen wir dann die alten realistischen Meister wie Tolstoi, und so sage ich, wir wuchsen gewissermaßen rückwärts. Gewöhnlich liest man historisch, erst die Realisten, dann die Autoren der klassischen Moderne. Wir lasen die Modernisten zuerst, so waren auch unsere ersten Schreibversuche experimentelle Romane, um sich gegen eine Tradition aufzulehnen, mit der wir gar nicht vertraut waren. Das ist eine seltsame Sache. So fuhren wir fort in der modernistischen und postmodernen Weise, entwickelten dann aber auch einen undefinierbaren Respekt für den Naturalismus und den Realismus, und diese beiden Traditionen zu verbinden , das ist wohl die besondere Qualität einiger Schriftsteller meiner Generation, obwohl ich dazu neige, diese generationenabhängige Beschreibung und Zusammenfassung nicht allzu korrekt, irgendwie verkürzt und nicht sehr hilfreich zu finden.

    In diesem Sommer will Jeffrey Eugenides mit seiner Familie Berlin verlassen und für einige Zeit nach America gehen. Und der Roman über Berlin, wird er eines Tages geschrieben werden?

    Jeffrey Eugenides
    Die Selbstmord-Schwestern
    Rowohlt, 251 S., EUR 17,90