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Rilke und Ronaldinho

Der WM-Kulturbeauftragte Jochen Hieber erkennt in Bewegungsabläufen des Fußballers Ronaldinho Parallelen zu Sprachmelodien in Gedichten. "Also Jürgen Kohler und Gottfried Benn zu verbinden, ich weiß, dass das nicht geht. Aber es geht sehr gut mit Rilke und Ronaldinho", sagte Hieber, zuständig für das Programm im "Fußball Globus FIFA WM 2006".

Moderation: Bernd Gäbler | 25.05.2006
    Bernd Gäbler: Herr Hieber, warum hat Fußball überhaupt etwas mit Kultur zu tun?

    Jochen Hieber: Fußball ist Kultur. Fußball ist eine Schule des Lebens. Und wenn etwas eine Schule des Lebens ist, hat es auch mit Lebenskultur zu tun. Das ist die ganz einfache Geschichte. Dann hat Fußball vor allem etwas mit Kultur zu tun, dadurch dass man über ihn reden kann - mehr oder weniger verständig, mehr oder weniger intelligent -, dass man ihn aber auch in den etablierten Künsten als Gegenstand künstlerischer Tätigkeit nehmen kann. Und es ist ein weites Feld. Aber Fußball und Kultur sind nicht getrennt, das waren sie lange im öffentlichen Bewusstsein. Im Innersten gehören sie zusammen.

    Gäbler: Aber, doch noch mal nachgefragt: Lothar Matthäus und Goethe, Jürgen Kohler und Gottfried Benn, wird da nicht zusammengezwungen, was wirklich nicht zusammengehört?

    Hieber: Ja ja, Sie haben jetzt natürlich die trefflichsten Beispiele genannt, wo es nicht geht. Aber es geht bei Rilke und Ronaldinho, da geht es sehr gut.

    Gäbler: Können Sie das mal kurz erläutern?

    Hieber: Ja, schauen Sie mal den Sprechbogen eines Rilke-Gedichts an, ja? "Wer jetzt kein Haus hat, wird immer einsam bleiben, durch kahle Alleen gehen." Und dann schauen Sie sich mal an einen Spielzug von Ronaldinho, dieser Wechsel von Vorwärtsbewegung, von Übersteiger, das gibt eine ganz eigene Bewegungsmelodie. Und das ist schlichtweg poetisch. Also Jürgen Kohler und Gottfried Benn zu verbinden, ich weiß, dass das nicht geht. Aber es geht sehr gut mit Rilke und Ronaldinho.

    Gäbler: Aber bei Fußball gilt doch der alte Satz: Entscheidend ist auf dem Platz. Ist demgegenüber das Kunst- und Kulturprogramm nicht doch nur Zierleiste?

    Hieber: Also wenn man das Kunst- und Kulturprogramm nimmt - das sind insgesamt 48 Projekte, die von der DFB-Kulturstiftung gefördert werden, auch mit öffentlichen Mitteln -, die haben bis dato weltweit, in Deutschland zumal, fast 2,2 Millionen Menschen angezogen. Wenn Sie rechnen, dass bei der WM drei Millionen Karten zur Verfügung stehen, dann haben wir zum einen gezeigt, dass die Menschen sich dafür interessieren. Und die Wahrheit, mein Lieber, die ist natürlich auf dem Platz. Aber es gibt auch einen Mehrwert an Fußball, und der ist auch die Wahrheit.

    Gäbler: Ist der Fußball nicht doch nur der Haken, an den jetzt viele Künstler und Intellektuelle die Mäntel hängen, die sie auch sonst in der Hand gehabt hätten?

    Hieber: Ja, ja. Das ist die berühmte Trittbrettfahrer-These, die man immer wieder hört. Ich habe es vorausgesagt: Wenige Wochen vor Beginn der WM wird es einen Overkill geben. Jeder Verlag wird etwas bringen, jede Galerie wird versuchen, irgendwas zu machen. Deswegen war mein Ansatz - und auch der Ansatz von André Heller, und deswegen sind wir zusammengekommen - so was nicht nachhaltig zu tun, sondern vorhaltig. Wir haben 1000 Tage davor begonnen und haben auf diese Weise das Terrain der Vorfreude und auch der Reflexion - denn der Fußball verträgt und benötigt kritische Reflexion - schon sehr früh bereitet.

    Gäbler: Marcel Reich-Ranicki hat einmal angemerkt, dass der Sport im Allgemeinen, auch der Fußball speziell, gar nicht so sehr geeignet wäre als Gegenstand der Literatur, weil alle Spannung, alles Hoch und Runter, Sieg und Niederlage, Triumph und Verzweiflung im Sport selber schon angelegt sei, weswegen die …

    Hieber: "Der Fußball ist selbst das Drama", wird er gesagt haben, nehme ich an. Und er hat ja so ganz unrecht damit nicht. Nur, und Sie können gleich sagen, dass es in Deutschland den großen Fußballroman nicht gibt, während es den großen Familien- und Gesellschaftsroman sehr wohl gibt. Ja, ja, ja, alles gut. Nur, wenn Sie zum Beispiel so ein Buch nehmen wie Tim Parks’ "Eine Saison mit Verona", dann sehen Sie, dass in einer Reportage über den Fußball reflexive Momente sein können. Wir haben ja heute ästhetisch sehr weit gefächerte Formen, in denen man sich so einem Phänomen wie Fußball nähern kann und wo man auch das Drama auf andere Weise widerspiegeln, reflektieren und weitertreiben kann.

    Gäbler: Fußballer und Künstler, ganz allgemein gefasst, Sportler und Menschen der Kultur, noch allgemeiner gefasst, Körper und Geist sind doch oft verschiedene Welten. Jetzt versuchen Sie eine Art kleinen Grenzverkehr zu organisieren. Was prägt den denn?

    Hieber: Ich habe einen Einwand gegen ein Wort Ihrer Frage, nämlich das "klein" bei "Grenzverkehr". So klein ist der nicht mehr. Und spätestens seit Netzer aus der Tiefe des Raumes kam und die Dichter Ludwig Harig und Dieter Kühn ein Jahrzehnt später daraus dieses berühmte Buch machten, ist von der Seite der Künstler und der Intellektuellen diese Grenze weit offen. Eine ganz interessante Erfahrung dieser Tournee des Fußball-Globus’ durch die zwölf WM-Städte ist, dass die Künstler nachgeradezu auf eine rührende Weise begehrlich sind, große Fußballstars - die oft gleich alt sind, oft viel jünger sind -, sich mit denen auseinander zu setzen, direkt, in der Diskussion, im Gespräch, in Frage und Antwort. Und die Fußballer kommen auch gerne in den Fußball-Globus. Nur, die haben Manschetten. Die haben Sorge, dass sie sich plötzlich mit einem Literaten wie Burkhard Spinnen über Literatur unterhalten müssen.

    Gäbler: Und woran, glauben Sie, liegt dann diese Einseitigkeit der Liebesbeziehung?

    Hieber: Die liegt natürlich daran, dass die Fußballer, die großen Fußballer, die berühmten Fußballer - wir hatten wahnsinnig viele Weltmeister im Lauf der Tournee, von ’54: Eckel, Ottmar Walter, von ’74: Overath et cetera, von ’90 -, dass die eine nach wie vor - die trauen dem Braten nicht. Immer wenn man "Fußball und" sagt, "Fußball und Gesellschaft", "Fußball und Politik", sind sie auf Grund ihrer Sozialisation - gerade auch als Profis, ja? - immer noch sehr schüchtern, sich dort in eine öffentliche Auseinandersetzung gerade mit Vertretern der so genannten anderen Seite zu begeben. Das ist ein Prozess. Wir haben mit dem Fußball-Globus diese Sachen ein ums andere Mal versucht aufzubrechen. Es ist uns auch gelungen. Aber es ist ein Prozess.

    Gäbler: Sie haben selber schon darauf hingewiesen, dass es jetzt ungeheuer viel gibt. Es gibt Singspiele und Oratorien, fast in jeder Klein- und Mittelstadt eine Ausstellung …

    Hieber: Das gehört sozusagen zum medialen Markt. Darüber muss man sich nicht beklagen, das muss man zur Kenntnis nehmen. Auch dort ist es so: Die wirklich guten Sachen werden sich durchsetzen. So ist es immer, im Fußball wie in der Kultur.

    Gäbler: Sie sind ja besonders der Belletristik verbunden. Was sind denn da die "guten Sachen"?

    Hieber: Also ich würde jetzt vor der Weltmeisterschaft - es ist auch ein schönes schlankes Büchlein, übrigens wunderbar gestaltet vom Verlag, nämlich so mit einem Samteinband, das sich wie Rasen anfühlt -, ich würde unbedingt lesen von Ludwig Harig die Fußballsonette "Die Wahrheit ist auf dem Platz". Wenn man darin liest, wird man merken, die Wahrheit ist in den Verszeilen.

    Gäbler: Sie haben auch einen Überblick über diese Fülle von Ausstellungen, die es jetzt gibt.

    Hieber: Das Highlight für mich ist in dieser Saison vor der WM in Bamberg, hören Sie zu: in Bamberg, im Historischen Museum Bamberg gibt es eine Ausstellung, die heißt "Kemari". Und Kemari ist eine Jahrtausende alte Form des japanischen Fußballspiels, in dem es nicht um Tore geht, sondern darum, den Ball in der Luft zu halten. Und der Weltrekord in Kemari besteht seit 1683, da ist es gelungen, dass die Mitspieler 5138 Mal den Ball sich zuspielten, ohne dass er den Boden berührte. Eine fantastische Ausstellung, mit Manuskripten, mit alten Bällen, mit alten Kostümen. Grandios.

    Gäbler: Was ist Ihnen denn ein größeres Herzensanliegen: Dass wir irgendwann, womöglich nach 2006, auch den großen deutschen Fußballroman hinbekommen oder dass wir bei der Fußballweltmeisterschaft mit der eigenen Nationalmannschaft ordentlich abschneiden?

    Hieber: Selbstverständlich das Letztere.