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Risiko ist höher als gedacht

Geologie.- In der Fachzeitschrift "Nature Geoscience" erscheint heute ein Artikel, der auf der Basis von GPS-Messungen das Erdbebenrisiko für die Anden östlich des Hauptkamms neu berechnet - und zwar für Bolivien. Das Ergebnis ist alarmierend.

Von Dagmar Röhrlich | 09.05.2011
    Netzwerke von GPS-Stationen sind bei Seismologen sehr beliebte weil aussagekräftige Arbeitsmittel. Schließlich verraten sie millimetergenau, wie sich die Erdkrustenplatten an der Oberfläche gegeneinander verschieben, und das erlaubt Rückschlüsse darauf, was tiefer in der Erde passiert. Ein solches Messnetz haben Seismologen auch über einer Störungszone in den bolivianischen Anden verteilt. Das Ergebnis ihrer zehnjährigen Messungen lässt nichts Gutes ahnen: Im Osten der Anden, wo das Gebirge allmählich in das Amazonas-Becken übergeht, ist die Erdbebengefahr sehr viel größer, als gedacht:

    "Wir haben zu unserer Überraschung festgestellt, dass sich ein Teil einer Störungszone, an der sich die Anden im Westen auf das Flachland im Osten überschieben, regelrecht festgefressen hat. Der östliche Teil ist blockiert, so dass sich im Lauf der Zeit ein hoher tektonischer Stress aufgebaut hat, der sich in einem großen Erdbeben entladen könnte."

    Den Analysen zufolge seien Beben der Magnitude 8,7 bis 8,9 durchaus möglich, erklärt Ben Brooks von der Universität von Hawaii in Manoa, der sich derzeit im Gelände aufhält:

    "Wir haben dieses Ergebnis überhaupt nicht erwartet. Bislang war man davon ausgegangen, dass es in der Gegend Beben höchstens der Stärke 7,5 geben könnte. Das hier wäre sehr viel größer."

    Bei Beben der Stärke 8,9 würde 30 Mal mehr Energie freigesetzt als angenommen. Das Risiko sei bislang unterschätzt worden, weil große Erdbeben in Bolivien sehr viel seltener seien als auf der westlichen Seite der Anden. Der Grund: Hier, im Osten, laufen die tektonischen Prozesse vergleichsweise langsam ab:

    "Die Anden verdanken ihre Existenz dem Abtauchen der ozeanischen Nasca-Platte unter der südamerikanischen Kontinentalplatte. Das passiert an einer sogenannten Subduktionszone, die vor der chilenischen Küste verläuft und an der immer wieder sehr starke Beben entstehen. In diese Plattenkollision sind die gesamten Anden einbezogen, so dass auch auf der anderen Seite, im Osten, Erdbeben entstehen. In dieser Zone schieben sich die Anden auf das stabile Innere Südamerikas."

    In dieser Überschiebungszone sitzt ein Areal von 85 bis 100 Kilometer Breite und etwa 500 Kilometer Länge fest und baut sehr hohe Spannungen auf - aber das ist nur ein Teil des Problems:

    "Diese sogenannte Mandeyapecua-Störungszone liegt in weiten Bereichen des Gebirges in nur zehn Kilometern Tiefe und steigt dann in Richtung Osten langsam bis zur Oberfläche auf."

    Reißt der gesamte derzeit mit Spannung aufgeladen Bereich der Störung, wäre das Beben also nicht nur mit einer Magnitude von 8.9 sehr stark, sondern es ereignete sich auch noch in sehr geringer Tiefe. Solche Beben können verheerende Folgen haben. Das sieht auch James Kellogg von University of South Carolina so, der nicht in die Arbeit involviert war. Er ist Experte für das Erdbebenrisiko in Südamerika, und auch er ist unterwegs und war nur über Handy zu erreichen:

    "Meiner Meinung nach ist der Aufsatz mit seiner sehr guten wissenschaftlichen Datenlage eine konservative Abschätzung des Bebenrisikos im Osten der bolivianischen Anden. Dort leben zwei Millionen Menschen. Ich selbst arbeite weiter im Nordosten, wo sehr viel mehr Menschen wohnen - vielleicht mit einem vergleichbaren seismischen Risiko. Wir müssen nun im Lichte dieser Resultate die Gefährdung in anderen Teilen der Anden untersuchen, denn es könnte auf den gesamten Bereich im Osten des Gebirges zutreffen."

    Das bedeute auch, dass die Erdbebeningenieure kontrollieren müssten, ob die Gebäude in den armen Ländern solchen Belastungen standhalten könnten, so Kellogg. Derweil will die Gruppe um Ben Brooks nun zunächst paläoseismische Untersuchungen angehen - also im Gelände nach Spuren von Mega-Erdbeben suchen. Zum einen, um ihre aus GPS-Daten heraus gewonnene Theorie zu bestätigen, zum anderen, um mehr über den zeitlichen Ablauf zu erfahren.