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Risikoforschung
Furcht vor dem Falschen

Wir fürchten uns meist vor dem Falschen, meint Ortwin Renn, Professor für Umwelt- und Techniksoziologie, in seinem Buch "Das Risikoparadox". Seine These: Wir leben immer risikoärmer und Gefahren erscheinen uns oft bedrohlicher, als sie tatsächlich sind.

Von Norbert Seitz | 10.02.2014
    "Ich bin Mutter eines zwölfjährigen Sohnes, und der hat Leukämie! Direkt vor unserem Haus steht ein Handymast, der Tag und Nacht auf unsere Familie einstrahlt. Seitdem der Mast da steht, haben wir keine Ruhe mehr. Mein Mann und ich haben ständig Kopfschmerzen, und die Kinder fühlen sich dauernd krank. Kein Mensch kann mir weismachen, dass diese angeblich so harmlose Strahlung keinen Effekt auf unsere Gesundheit hat."
    Für den Risikoforscher Ortwin Renn ist der eben gehörte Fall ein Musterexempel dafür, dass wir uns meist vor dem Falschen fürchten. Und dafür gibt es aus seiner Sicht eine ganze Reihe von psychologischen aber auch soziologischen Gründen. Einer davon ist, dass wir Ursache und Wirkung immer im Zusammenhang mit örtlicher oder zeitlicher Nähe sehen und deshalb dazu neigen, falsche Ursachen bestimmten Symptomen zuzuordnen.
    "Wenn ich einen Handymast neben mir sehe und habe Kopfschmerzen oder sogar Leukämie, dann ist klar, es muss der Handymast sein. Und wir sind darauf gepolt, diese Komplexität zu reduzieren. Und das ist leider oft nicht korrekt."
    Nach Ansicht des Autors gibt es eine ganze Reihe von Risiken, die im Bewusstsein der Bevölkerung als ausgesprochen hoch eingeschätzt würden, die aber, statistisch betrachtet, sehr geringe Risiken für jeden einzelnen mit sich brächten. Ortwin Renn:
    "Das sind vor allem Risiken, die aus dem Bereich chemischer Zusatzstoffe, etwa aus Lebensmitteln, stammen oder eben beim Gebrauch von technischen Geräten sich einstellen, also das sind Risiken, die statistisch gesehen, sehr, sehr selten sind, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders bedrohlich angesehen werden."
    Geringere Risikobereitschaft
    Ortwin Renn ist Professor für Umwelt- und Techniksoziologie an der Uni Stuttgart. In seiner umfangreichen Untersuchung geht er von der These aus, dass wir immer risikoärmer lebten. Gefahren erschienen oft bedrohlicher als sie es tatsächlich seien.
    "Der Widerspruch besteht darin, dass in unseren Umfragen die Menschen den Eindruck haben, dass das Leben immer risikoreicher wird, während die Gesamtheit der Statistik uns sagt, wir leben immer sicherer, gesünder und länger. Dagegen ist die Fragestellung, ob bestimmte Technologien Langzeitwirkungen haben, nicht aufzurechnen. In dem Buch sage ich deutlich, dass auch Technologien – wie beispielsweise die Kernkraft – so gravierende Auswirkungen haben kann, dass man zu Recht darauf verzichtet."
    Renns systemische Risiken
    Was aber bedroht uns wirklich? Welche Risiken unterschätzen wir? Renn nennt sie die "systemischen Risiken", die meist unbemerkt blieben und dahinschleichen würden, ehe sie zu dramatischen Konsequenzen führen könnten. Drei Risikoarten werden hier besonders herausgestellt.
    "Das erste sind die Risiken durch die Interventionen des Menschen in die natürliche Umgebung. Das sind vor allem Klimarisiken, aber eben auch Risiken der Abfallentsorgung, Risiken der Rohstoffentnahme."
    Die zweite große Klasse sind Risiken, die mit Steuerungsdefiziten verbunden sind. Darunter versteht Renn …
    "Dass die Gemeinschaft es nicht schafft, beispielsweise mit Allgemeingütern sinnvoll umzugehen oder eben dass einfach die Zuverlässigkeit von politischem Handeln infrage steht – Beispiel Korruption."
    Und die Nummer drei – das sind soziale Risiken:
    "Die damit zusammenhängen, dass unser soziales Zusammenleben brüchig geworden ist, dass durch Globalisierung, dadurch dass wir zunehmend entwurzelt werden von dem, was man früher einmal Heimat genannt hat, die Krankheiten unserer Psyche nehmen zu."
    Ortwin Renn, Mitglied im wissenschaftlichen Beraterstab von EU-Kommissionspräsident Barroso, weist daraufhin, dass viele Aktivitäten, die in die richtige Richtung gingen, keine notwendige Kurskorrektur erreicht hätten – im Gegenteil:
    "Die CO2-Emissionen sind 2012 gestiegen, dabei sollten sie laut Kyoto-Protokoll von 1997 bis 2012 reduziert werden. Trotz aller Effizienzgewinne steigt global der Ressourcen- und Energieverbrauch weiter an Regenwälder werden weiter abgeholzt und abgebrannt Wasser wird in vielen Regionen knapp. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird trotz eines Weltwirtschaftswachstums von fünf Prozent in den letzten zehn Jahren immer größer. Die Weltbevölkerung wächst pro Jahr noch immer um rund 80 Millionen Menschen. Und last but not least: Das Weltfinanzsystem bleibt in wesentlichen Teilen dereguliert."
    Renns These: Resilienz vor Effizienz
    Wie aber könnte eine kluge Risikopolitik aussehen? Der Autor verfolgt dabei die These: Resilienz vor Effizienz! Und das heißt: Mehr Widerstandsfähigkeit ist gefragt.
    "Gemeint ist damit, dass die Funktionen, die einer Gesellschaft sehr wichtig sind, seien es Funktionen der Ernährung, die Funktionen einer ausreichenden Beschäftigung oder auch einer ökologisch verträglichen Entwicklung, dass die auch bei sehr ungewöhnlichen Ereignissen erhalten bleibt. Also dass wir auch mit Störungen unsere wichtigen Dienstleistungen erhalten können. Und das besondere der Resilienz ist, und das macht sie so schwierig, dass sie öfters Geld erfordert, dass man eigentlich, wenn man nur nach Effizienz vorgehen würde, nicht ausgeben würde."
    So gibt Ortwin Renns Risikostudie viele wichtige Hinweise auf unsere häufig übertriebenen Risikoeinschätzungen. Bei der Unterfütterung der zentralen These von unserem Mangel an Risikomündigkeit droht das Buch allerdings leider aus allen Nähten zu platzen. Diagnose und Therapie verlieren sich in zahlreichen Querverweisen und Nebenstatistiken. Hierdurch gerät der Autor in Widerspruch zu seinem hochgehaltenen Gebot einer nüchternen Beurteilung.
    Literaturangaben:
    Ortwin Renn: "Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten"
    Fischer TB, 608 Seiten, 14,99 Euro.