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Risikowahrnehmung
Die Schwierigkeit, Gefahren richtig einzuschätzen

Mit 180 über die Autobahn fahren, auf das Impfen der Kinder verzichten - was jemand für normal oder gefährlich hält, beruht oft auf persönlichen Einschätzungen. Wer Daten und Fakten auswertet, um Risiken von Entscheidungen oder Tätigkeiten zu bemessen, kommt oft zu einer ganz anderen Beurteilung. Im Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main diskutierten Fachleute über subjektives und angemessenes Risikoverständnis.

Von Michael Braun | 05.03.2015
    Das Kernkraftwerk KKL bei Leibstadt, Kanton Aargau, Schweiz, bei Sonnenaufgang.
    "Nach wissenschaftlicher Sicht ist ein Risiko da, aber es rechtfertigt nicht die komplette Abschaffung der Atomenergie", sagte der Frankfurter Chemiker Professor Harald Schwalbe. ( imago/EQ Images)
    Wenn es kompliziert wird, neigen auch Hochschullehrer zu unumstößlichen Aussagen, der etwa, dass das Leben gefährlich sei und mit dem Tod ende. Doch wenn Wissenschaftler verschiedener Disziplinen einen ganzen Tag lang der Frage nachgehen, wie eine Gesellschaft Lebensrisiken wahrnimmt, muss es differenzierter werden. Wurde es auch am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Universität Frankfurt. Klar schien allen, dass die Erkenntnisse etwa der Naturwissenschaften relativ wenig zum Risikobewusstsein beitragen. Beispiel Atomkraft:
    "Nach wissenschaftlicher Sicht ist ein Risiko da, aber es rechtfertigt nicht die komplette Abschaffung der Atomenergie", sagte der Frankfurter Chemiker Professor Harald Schwalbe. Warum trotz Fukushima in Japan weiter Atomkraftwerke gebaut, hier aber geschlossen werden, erklärte er historisch:
    "Die gesamte Atomenergie in Deutschland ist auch vor dem Hintergrund wahrscheinlich des Zweiten Weltkriegs zu sehen, der großen Ablehnung der atomaren Wiederaufrüstung, wofür Menschen auf die Straße gegangen sind. Daraus ist entstanden Atomkraftgegner. Ich glaube, wir haben da einfach historisch andere Bedingungen als die Franzosen und die Engländer und die Japaner und die Amerikaner."
    Selbst beeinflussbare Dinge viel weniger wahrgenommen
    Vor allem in Gesundheitsfragen wachse eine Angst vor den falschen Risiken heran, lautete eine weitere Tagungsthese. Die Menschen hätten nämlich Angst vor den Risiken, die in den Medien breitgetreten würden, hat Professor Eckhard Nagel vom Institut für Medizinmanagement der Universität Bayreuth beobachtet:
    "Also am meisten befürchten die Menschen Schäden durch Umwelt, durch Lebensmittel. Ganz zum Schluss kommen Alkohol, Tabak oder aber eben auch Darmkrebs. Das heißt also, die Dinge, die man selber beeinflussen kann, die nimmt man gar nicht so sehr wahr, wenn es um die Frage des Risikos geht, vielmehr diejenigen, die weiter weg von einem sind. Und das macht es natürlich schwierig für Präventionsmedizin."
    Das Recht auf Nichtwissen
    Das sei nicht Schuld der Medien, meinte Nagel. Sondern die Menschen müssten lernen, damit umzugehen. Das wiederum werde angesichts der Informationsflut gerade durch die Digitalisierung der Medienlandschaft immer schwerer, meinte der Bonner Privatdozent Dirk Lanzerath. Der Geschäftsführer des Deutschen Zentrums für Ethik in den Biowissenschaften plädierte für ein Recht auf Nichtwissen, ein aufgeklärtes zwar, das sich bewusst mache, was man verpasse, aber doch ein Recht auf Nichtwissen. Denn es gebe Wissensformen, die seien sehr belastend für den eigenen Lebensplan.
    "Wenn ich über alle etwa meine genetischen Risiken Bescheid wüsste, kann das dazu führen, dass ich überhaupt kein Entfaltungspotenzial mehr habe, weil die Last des Risikobewusstseins so groß ist, dass ich die Chancen der Lebensführung gar nicht mehr sehe."
    Der Ethiker Lanzerath beklagte auch die Tendenz in der Gesellschaft, die Natur mit den Methoden der Naturwissenschaften beherrschen zu wollen: "Im statistischen Manual der psychischen Erkrankungen kann man seit Jahren verfolgen, wie immer mehr Zustände als pathologisch eingestuft werden."
    Dabei habe etwa Altern nichts mit Krankheit zu tun, sondern gehöre zur Natürlichkeit des Lebens. Es sind nicht solche Fakten, die die Wissenschaft herausfordern. Es ist die Aufgabe, Ausbildung und Bildung im Bereich des Verstehens von Risiken zu forcieren.