Freitag, 19. April 2024

Archiv


Risse im Gleichgewicht

Ulrike Kolb hat Romane über den Konsumzwang, über einen alleinerziehenden Vater oder, wie in "Frühstück mit Max", über die Auswirkungen einer 68er-Erziehung auf die kindliche Psyche geschrieben. Wesentliche gesellschaftspolitische Themen sind in ihr literarisches Werk auf sehr persönliche Weise eingeflossen.

Von Bettina Hesse | 28.12.2009
    Die 1942 im Saarland geborene Autorin empfindet ihren Jahrgang als moralische Verpflichtung, sich als Deutsche mit dem Thema Holocaust auseinanderzusetzen. In der frühen Erzählung "Eine Liebe zu ihrer Zeit" klang das Motiv bereits an, in ihrem neuen Roman "Yoram" erzählt Ulrike Kolb von einer deutsch-jüdischen Liebe, die den Nachwirkungen der Schoa ausgesetzt ist.

    Jedes Leben wird bedeutsam durch Erinnerung.

    Als ihre Ehe in eine bedrohliche Krise gerät, versucht Carla, die Ich-Erzählerin aus "Yoram", sich zu erinnern. Sie beginnt mit einer Bestandsaufnahme ihrer Liebesgeschichte, um sich zu vergewissern, wie es zu den Konflikten kommen konnte und was sie zusammengehalten hat.

    Die Liebe zwischen Carla und Yoram ist keine gewöhnliche: Kennengelernt haben sie sich in Israel im Kibbuz, wo Carla als junge Pädagogin auf der Suche nach idealen Modellen von Kindererziehung ist. Ihr soziales Engagement kommentiert Yorams Freund Arnon:

    " ... ob ich etwa erwarte, dass die Israelis ... sozusagen die besseren Menschen seien ... Die Leute aus Deutschland ... treten auf, als wollten sie prüfen, ob der Holocaust auch nicht umsonst gewesen ist und ob die Juden endlich so sind, wie die Deutschen sie haben wollen."

    Zum Pessachfest bei Arnons Eltern wird Carla wieder ausgeladen, weil ihnen eine Deutsche nicht zuzumuten ist. Dieser erste Konflikt bringt einen Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten, denen Carla und Yoram begegnen.

    Carlas Vater war Lazarettarzt bei der Wehrmacht. Als die üblichen Fragen auftauchen, ob er nichts gesehen habe im Osten, sagt er, dass Morde zum Krieg gehörten, er aber zum überzeugten Pazifisten geworden sei. Beim Antrittsbesuch bei Carlas Mutter bekommt Yoram die Schale gezeigt, die der Vater 1942 auf einem Springturnier gewonnen hat. Nie hat Carla auf das Datum der Obstschale geachtet, doch sieht sie es nun mit anderen Augen. 1942 wurde auf der Wannseekonferenz beschlossen, alle noch lebenden europäischen Juden zu töten - aus Yorams Familie gehörten Großeltern und Onkel dazu. Nach dem Krieg sind Yorams Eltern mit ihm nach Deutschland zurückgekehrt; als Anwalt verteidigte der Vater Überlebende des Holocaust - einigen Israelis galt das als Verrat. Carla will Yoram alles erzählen, diese Dinge sollen sie nicht auseinander bringen, sie wollen daran wachsen.

    Als die Tochter Vered zur Welt kommt, verändert sich vieles. Yoram, nun zwischen drei Frauen stehend - Mutter Aliza, Carla und seiner Tochter - liebt sie besonders. Diese Liebe festigt ihn, oft fühlt Carla sich ausgeschlossen. Vered macht die Familienkonstellation stabil.

    Die Auswirkungen des Holocaust sind ständig spürbar, als bewegte sich das Paar auf unsicherem Terrain. Beim Hochzeitsfest von Marianne, Carlas Lieblings-Cousine, wird von einem Onkel erzählt, der sich während des Krieges in eine Norwegerin verliebte und sie heiratete, als sie schwanger wurde. Als Richter in Polen eingesetzt, ist er häufiger Gast auf einem Gestüt bei Kattowitz:

    "Von überall her seien die Leute zu den Pferdeschauen gekommen, den Reit- und Fahrtunieren, um sich die prächtigen Züchtungen anzusehen oder selbst mitzureiten. Übrigens auch der Kommandant von Auschwitz, so einen guten Ruf habe das Gestüt gehabt ... Episode reihte sich an Episode, bis ihn Yoram mit der Frage unterbrach: Und wie war er so gewesen, der Kommandant?"

    Die Lawine ist losgetreten, Carla und Yoram verlassen die Feier fluchtartig. Später ruft Marianne aus Italien an, um Carla zu beschwichtigen. Man müsse die Dinge nicht so einseitig sehen:

    "Es ist, wie es ist. Da klaffen Welten, die kann man nicht zusammenbringen, nie ..."

    Es ist das Ende ihrer Freundschaft.

    Viele solcher Episoden vergrößern den Riss, dem jeder auf seine Weise begegnet. Yoram spricht nur von Europa oder Frankfurt, nie von Deutschland, und Carla meidet bestimmte Themen, obwohl sie weiß, dass sie im Grunde keine Schuld trägt.

    Ulrike Kolb erzählt behutsam, wie das Paar von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" eingeholt wird. Sie taucht in die Geschichte der beiden Familien ein, schildert alltägliche Probleme, die in Carlas Leben mit Yoram eine andere Färbung annehmen. Die schmerzvolle Arbeit des Erinnerns fördert die Beschädigung der Menschen durch die Schoa zutage - bis weit in nachfolgenden Generationen. Gleichzeitig bringt Carlas Art der Wahrnehmung jene Beiläufigkeit mit sich, die zum gewöhnlichen Familienalltag gehört. So komplex beide Seiten miteinander verbunden sind, so empfindlich ist ihr Gleichgewicht. Genau dieses Spannungsfeld bringt der Roman auf den Punkt.

    Besonders deutlich wird das an Yorams Mutter Aliza. Sie ist als 15-Jährige von Berlin nach Palästina gegangen und hat so überlebt, während sich die Spuren der Eltern und vor allem ihres jüngeren Bruders Albert verlieren. Der Verlust prägt ihr Leben, auch das Verhältnis zu ihrem Sohn. Doch sie ist unsentimental und weise, was Carla beeindruckt. Eine enge Beziehung verbindet Aliza mit ihrer Enkelin, die sie zärtlich "Warumchen" nennt. Ihr erzählt sie mehr als dem eigenen Sohn, so auch die Geschichte ihres Bruders Albert - keine leichte Bürde für Vered.

    Organisch fließen die Episoden in Carlas Erinnerungsprozess ein, der seine Spannung daraus bezieht, dass er frei von Wunschdenken ist. Eines Tages findet sie zweideutige Fotos von ihrem Vater als Stabsarzt in Krakau. Das Bild der integren Vaterfigur bricht plötzlich zusammen.

    "Und bei all diesen Fragen pochte der allererschreckendste Gedanke durch: Was soll Yoram damit anfangen? Und erst recht Vered? Was würde es bei ihnen auslösen, diese Fotografien zu sehen? Vielleicht würde Vered sich ja von mir lossagen, für immer."

    Der Gewissenskonflikt, die eingehende Lektüre über die Schrecken der Schoa und ein heimlicher Besuch in Auschwitz stürzen Carla in eine schwere Krise. Als Yoram den wahren Grund ihres Zusammenbruchs erfährt, kommt die Geschichte ihrer Liebesbeziehung in der Gegenwart an - und dort stehen ganz normale Dinge zwischen ihnen, Dinge, die auch andere Paare auseinanderbringen.

    Im langen Epilog kommt Vered, nun selbst Mutter, zu Wort. Sie bekennt sich zur jüdischen Seite, und die Geschichte erscheint in einem anderen Licht. Ausgerechnet sie findet nach Alizas Tod Alberts erschütternden Brief aus dem Ghetto Litzmannstadt an seine geliebte große Schwester.

    Dramaturgisch ist so ein doppelter Bogen geschlagen. "Yoram" überzeugt, weil das Erzählte bei aller Selbstvergewisserung und thematischen Schwere unmittelbar leicht bleibt.


    Ulrike Kolb: Yoram, Roman
    297 Seiten, Wallstein Verlag, 2009. 19,90 Euro