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Rituale der Einwanderungsgesellschaft
Orientierung in einer unübersichtlichen Welt

Rituale gehören zum Alltag. Jede Gesellschaft, jede Kultur hat eigene Rituale. In Deutschland hatten sie durch den Nationalsozialismus lange Zeit einen schlechten Ruf. Allmählich entdeckt die Wissenschaft nun die positiven Seiten von Ritualen. Wer sie versteht, könnte sogar die Welt verbessern.

Von Almuth Knigge | 02.02.2017
    Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven (aufgenommen 2008)
    Besucher vor dem Eingang zum Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven. (picture alliance / dpa / Wolfgang Weihs)
    "Das finde ich ganz bewundernswert, dass meine großen Kinder immer noch Heiligabend mit mir in den Kindergottesdienst gehen."
    Rituale sind per Definition nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt.
    "Wir singen zum Beispiel immer Weihnachtslieder und Geburtstage ähnlich."
    "Ich hab meine Identität häufig durch die Folklore, durch die Musik aufrechterhalten. Das hat mir unheimliche Dienste geleistet. Jetzt, wo ich regelmäßig zwischen Chile und hier pendele, bin ich froh, dass ich das gemacht habe. Ich hab den Kontakt nie verloren - innerlich."
    Die Asiaten in Deutschland feiern das Neujahrsfest traditionell am zweiten Neumond des Jahres, für die Muslime ist das Fastenbrechen eines ihrer größten Feste. Die Fremdheit dieser Rituale löst bei dem einen Befremden, bei dem anderen Neugier aus. Allen gemeinsam ist - die Gemeinsamkeit muss erlebbar sein.
    "Ein Ritual muss mehr sein als der Abruf von Gefühlen durch Wiederholung."
    Um Angst zu überwinden, haben Menschen Rituale
    Es soll Orientierung geben in einer unübersichtlichen Welt. Die politischen Konflikte in den Nachrichten klingen verworren, die eigene Biografie ist kaum planbar. Die Gesellschaft differenziert sich, der Stress nimmt zu. Rituale helfen, weil sie Sicherheit vermitteln und ein Wohlfühlen zum Ziel haben. Es gibt nichts Soziales ohne Rituale – sagt der Berliner Ritualforscher Christian Wulf.
    "Ist ein Frühstück ein Ritual - ich würde sagen, das ist es."
    Das Morgenritual. Das Familienritual. Rituale markieren aber auch den Schritt in eine neue Lebenssituation. Von der Universität in die Arbeitswelt, vom Single-Dasein in die Ehe, vom Leben in den Tod.
    Wo anders als in Bremerhaven, erklärt Simone Eick, die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, das eigentlich auch ein Einwandererhaus ist, kann darüber diskutiert werden, wie Fremde das Leben, das Denken und Fühlen in Deutschland verändern - eine Veränderung, vor der viele Angst haben – weil es eben fremd ist. Auch um Angst zu überwinden haben Menschen Rituale geschaffen.
    "Bremerhaven hat den Abschied inszeniert - im 20. Jahrhundert noch viel, viel mehr als im 19. Jahrhundert. Es gab eine Kapelle des Norddeutschen Lloyd und der spielte bei jeder Abfahrt "Muss i denn zum Städele hinaus ..."
    Jeder Passagier bekam eine Luftschlange, die er dann vom Schiff aus an Land warf und die ein Angehöriger oder auch ein Bremerhavener an der Kaje auffing. Das Schiff legte ab – und irgendwann riss die Luftschlange. Für mehr als sieben Millionen Menschen der Anfang eines neuen Lebens in einer neuen Welt. Damals wie heute in Deutschland, empfangen von einer Gesellschaft mit eigenen Ritualen, die Ordnung schaffen sollten, stabilisieren sollten, die den sozialen Kitt für eine Gesellschaft boten. Viele Symbole dafür gibt es in der Ausstellung des Deutschen Auswandererhauses.
    Einheimische fremdeln mit Zugewanderten
    "Hier möchte ich Ihnen ein Objekt zeigen, das ist eine Initiative eines amerikanischen Hausfrauenclubs und die haben sich überlegt, wie kann man die Ankömmlinge dazu anhalten, schnell Amerikaner zu werden und die haben so kleine Kärtchen drucken lassen und verteilt und auf denen stand unter anderem der Vorschlag: Hissen Sie jeden Morgen die amerikanische Flagge vor ihrem Haus."
    Nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck – der Integration. Kein Vorbild für das 21. Jahrhundert, aber Beispiel dafür, wie man Verbindendes finden kann. Das ist die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft. Nicht im Sinne der Melting-Pot-Theorie, die sich die Gesellschaft als Schmelztiegel vorstellt, in der sich Einwanderer vor allem durch vollkommene Angleichung, Assimilation, integrieren. 1916 machte sich die Ford Motor Company das Bild des Schmelztiegels für die Abschlussfeier an ihrer betriebseigenen Sprachschule zu Eigen. Die eingewanderten Arbeiter begaben sich auf der einen Seite in Nationaltracht in den symbolischen Schmelztiegel, eine Baracke, um auf der anderen Seite in amerikanischer Kleidung und mit der amerikanischen Flagge in der Hand wieder herauszukommen.
    Assimilation pur! Von der Wissenschaft auch damals schon kritisiert, heute aber noch von vielen im Alltag gefordert. Denn Einheimische fremdeln mit Zugewanderten und Zugewanderte fühlen sich fremd, halten an ihren Heimatritualen fest, ziehen sich in ihre eigene Welt zurück. Grenzen ebenfalls aus.
    Deshalb ist die Idee der Wissenschaftler eine andere. Über gemeinsam entwickelte Rituale kann es gelingen, sich Menschen anderer Kulturen gegenüber zu öffnen, meint der Anthropologe Christoph Wulf. Allerdings tut sich Deutschland damit etwas schwer. Denn Rituale haben einen schlechten Ruf. Die Vergangenheit ist schuld.
    Dynamisch und treibende Kraft gesellschaftlicher Veränderungen
    "Der Hintergrund ist sicherlich der Nationalsozialismus und die Erkenntnis, dass man Rituale missbrauchen kann, um Menschen gleichzuschalten und Individualität zu nivellieren. Und daher gab es eben auch durch die Studentenbewegung und durch die 68er-Generation sehr stark vorangetrieben, eine Kritik an Ritualen."
    Unter den Talaren Muff von tausend Jahren. Erneuerung und Kreativität, so die These damals, könne es nur geben, wenn das Alte aufgebrochen werde. Erst allmählich entdeckt die Wissenschaft die positiven Seiten von Ritualen. Wer sie versteht, könnte sogar die Welt verbessern.
    "Und das haben wir eigentlich in den letzten zehn bis 15 Jahren in Deutschland wieder neu entdeckt und entdeckt, dass Rituale konstitutiv sind für unser soziales Leben und für die Gesellschaft."
    Heute sind Rituale oft durchlässiger. Sie sind dynamisch und eine treibende Kraft gesellschaftlicher Veränderungen. Die säkulare Gesellschaft entdeckt Rituale wieder, erfindet sie neu. Eine Chance für einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es fängt klein an.
    "In der gegenwärtigen Situation gibt es natürlich ganz viele Versuche von Menschen, die das auf freiwilliger Basis tun, ehrenamtlich, kleine Rituale zu schaffen, Ritualisierungen des Alltags, in denen es zur Begegnung kommt, zwischen den Fremden und den Deutschen."
    Rituale machen Werte sinnlich erfassbar
    Denn Werte wie Solidarität, Verlässlichkeit oder auch Verfassungstreue kann kein Mensch unmittelbar mit seinen Sinnen wahrnehmen. Rituale machen sie sinnlich erfassbar und in einer Gemeinschaft teilbar. Sie machen Abstraktes real.
    "Und das entscheidende ist dabei, dass man gemeinsam handelt und das man etwas körperlich macht zusammen, man kocht zusammen, man ist aktiv zusammen, das ist nicht nur Sprache, sondern handeln."
    Voraussetzung aber ist eine gegenseitige Öffnung, ein gemeinsames Suchen. Das wiederum setzt noch viel Bildungsarbeit voraus. Darin sieht vor allem Simone Eick, die Migrationsforscherin, ihre Aufgabe.
    "Das ist kein Problem, das ist ein Fakt, dadurch, dass sich in Deutschland mit der Migrationsgeschichte nicht beschäftigt wurde, erst seit zehn Jahren überhaupt erst in Schulbüchern stattfindet, sind hier Generationen aufgewachsen, die überhaupt kein Gefühl dafür haben, keine Vorstellung und kein Wissen."