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Rituelles Ausmisten

Michael Stavaric taucht in seinem neuen Roman in die "Brenntage" ein. Das sind die Tage im Jahr, an denen es behördlich erlaubt ist, Müll im eigenen Garten zu verbrennen - was die Menschen in dem Roman mit geradezu religiösem Eifer tun.

Von Anja Hirsch | 18.04.2011
    Einmal im Jahr verschwand aller Unrat aus unseren Häusern, der sich nur zu gerne in den Ecken und Kellern anhäufte, mein Onkel meinte noch mahnend... bloß nichts davon übersehen! Einmal im Jahr räumten und schleppten wir demnach allerlei Gerümpel in unseren Garten. Wir nahmen Streichhölzer und Feuerbeschleuniger und taten, was getan werden musste.
    Lange rätselt man, was die Menschen in Michael Stavaric' Roman "Brenntage" antreibt, mit geradezu religiösem Eifer Möbelstücke, Gummiwaren, Essensreste oder Matratzen in die Feuer ihrer weltabgeschiedenen Siedlung zu werfen. Misten sie aus? Vertreiben sie böse Geister? Helfen sie wirklich nur der vom Müll überforderten Ortsverwaltung? Doch schon die ersten Sätze über dieses archaische Ritual, das reinigend oder bedrohlich sein mag, wiegen sich refrainartig, als ginge es nicht so sehr um den Verbrennungsakt an sich, sondern vielmehr um die Wiederkehr der immer gleichen Erfahrung und wie sie in verschiedenen Altersstufen wahrgenommen wird:

    Nach und nach übergab ich sie den Flammen, die Stoffhasen und Katzen, Drachen und Plüschbären, kein Einziges sparte ich auf oder hielt es zurück. Ein seltsamer (und merklicher) Ruck ging durch ihren Körper, kurz bevor sie die Flammen vollends erfassten, blickten sie mich vorwurfsvoll an, braune, grüne und schwarze Knopfaugen, die einst mit mir lebten, irgendwann in Vergessenheit gerieten und nunmehr langsam verkohlten.

    Der namenlose Ich-Erzähler wächst nach dem Tod seiner Mutter bei Onkel und Tante auf. Nachts schlagen Äste gegen das Haus, und in den Birken vermutet man Geister schaukeln. Tagsüber nährt die Tante die kleine Familie nach alten Rezepten mit Gerichten, die "Scheiterhaufen" heißen.

    Der Onkel rüstet fürs Leben draußen. Früh lernt der Neffe klettern, Geheimschriften auf Fensterscheiben hauchen oder Tiere im Keller präparieren; später, dass Mädchen nach Waldtümpeln duften. Es blieben wohl nur Szenen einer Kindheit, wenn Michael Stavaric sie nicht nur aus der distanzierten Vergegenwärtigung eines inzwischen erwachsenen Erzählers hervorzauberte, sondern überdies aus den modrigen Tiefen einer von Aberglauben geprägten Gegend. Aus den Wolken leitet man dort die Zukunft ab. Durch die rituellen Feuer während der Brenntage erhofft man sich Blicke in die Vergangenheit, zurück gar bis in die Zeit der Höhlen und Felle, als die Menschen noch Reisig verbrannten, um sich aufzuwärmen. Auch auf die Kinder der Siedlung übt das Spiel mit dem Feuer Faszination aus. Sie erfinden eigene Rituale am Waldteich.

    Wir stellten uns im Kreise auf, wobei wir darauf achteten, den Träumer immer möglichst eng einzuschließen, später bugsierten wir ihn in tieferes Wasser und tauchten seinen Kopf unter, immer weiter, selbst wenn er um sich schlug und mit den Beinen nachtrat oder nach Luft schnappte, wir hielten ihn unten, bis er schließlich bewusstlos wurde. Dann zogen wir ihn aus dem Wasser und legten ihn auf eine Bahre aus Tannenzweigen, der Tagespriester massierte seine Brust, und eine Wächterin beatmete und küsste den Träumer (oder die Träumerin), bis dieser erwachte. Wir verloren (bei allem Übermut) keinen Einzigen, niemand von uns musste dabei sterben.
    Michael Stavaric zieht uns mit allen Sinnen in die merkwürdig entrückte Zeit um die Pubertät. Bisweilen glaubt man sich in einer ursprünglichen Welt à la Peter Pan; dann wieder ist die Präsenz der Erwachsenen unablässlich für das innere Erleben des Erzählers. Die Magie, die von dieser Prosa ausgeht, ist nicht nur eine der Inhalte. Sie wohnt einer Sprache inne, die Klang hat. Jede Penetranz ist ihr fremd; die variierende Wiederholung lieber als der einmalige, abschließende Satz. Statt Handlung bilden Leitmotive Konturen: das Knistern der Flammen; die nicht verstandenen Bewegungen der Soldaten und Jäger im Dickicht des nahen Waldes; und schließlich die nachgelassenen Briefe der toten Mutter des Jungen, geschrieben in Erwartung ihres nahen Todes.

    Dann und wann kamen Briefe an, die zwar die Handschrift meiner Mutter trugen, doch mir schienen sie gänzlich fremd. Sie enthielten allerlei unzusammenhängende Sätze und etliche Fragmente, die vielen Lücken und Leerstellen machten mir Angst, wo ich mir doch schreckliche Dinge ausmalte. Als hätte jemand die Mutter am Schreiben hindern wollen, ihr immer wieder das Papier entrissen oder zerknüllt oder ihre Feder abgebrochen oder sie mit Grimassen verschreckt, man sah ihren Worten an, dass sie müder wurde, irgendwann würde sie vielleicht nicht einmal mehr wissen, wie sie hieß, und schon gar nicht, wovor sie mich hatte warnen wollen.
    Kindheit, so Novalis, sei die erste Stufe der Bildung - und fortan der Sehnsuchtsort. "Brenntage" spielt so leichtfingrig auf der Klaviatur des romantischen Bildmaterials, das man es kaum merkt. Und doch ist sie im Hintergrund präsent: die Novalische Figur des Heinrich von Ofterdingen, der erst durch drei Höhlen ins Berginnere eindringen muss, wo ein Einsiedler ihm das Buch seines Lebens zur unmittelbaren Anschauung bringt, Heinrich aber keine Silbe davon versteht. Auch Stavaric lässt seinen inzwischen jugendlichen Helden am Ende einfach in den unterirdischen Bergwerksminen zurück, wohin sich der Onkel mit ein paar Überlebenden der Siedlung geflüchtet hat - die Feuer hatten doch einmal auf die Häuser übergegriffen. Aber keineswegs wirkt der Roman deshalb weltfremd, vielmehr sehr gegenwärtig. Die Fragmente respektieren die unsichere Balance einer Lebensphase, die verwirrend zwischen heiliger Erwartung und apokalyptisch wirkender Umbrüche angesiedelt ist.

    Ich las und wurde älter, die Haare wuchsen und ergrauten, und irgendwann meinte ich sogar, Bartstoppeln zu verspüren, doch dann war ich wieder nur ein Kind.
    Stavaric geht es um Anschauung, nicht um rationale Analyse. Vielleicht ist das der Grund, warum diese literarische Reise ins Kindheitsland nichts Besserwisserisches hat und tatsächlich berührt. Angelegt als dauerbewegter Kreisel, versickert der Roman auf den letzten Seiten in einer sich wiederholenden Erzählsequenz. Er versiegt trichterartig wie der letzte Wasserstrudel im Badewannenabfluss - ein Endlosgedenken, das in Wahrheit keinen Schlusspunkt kennt - nur Ursprünge.

    Als Kind habe ich mir immer gedacht, diese und ähnliche Geschichten in meinem Kopf müssten irgendwo einen Ursprung haben... Ich stellte mir vor, wenn zu Hause der Regen auf das Fensterbrett (ob Schnürl- oder Platzregen, ganz egal) trommelte, dass dort irgendwer mithilfe der Abertausenden Wassertropfen auf einer unsichtbaren Maschine schrieb, jeder Tropfen war ein Anschlag, ein Buchstabe, vielleicht sogar ein Wort, und ich wollte unbedingt diesen Geschichten lauschen.
    Michael Stavaric, dessen Muttersprache Tschechisch ist und der mit sieben Jahren nach Österreich kam, wird um die hypnotisierende Wirkung der Pendelbewegung zwischen den Sprachen und Geschichten wissen. Und so ist auch das Ritual, das er in den Mittelpunkt seines neuen Romans stellt, mehr als nur lodernde Kulisse für Anekdoten. Kindheit wird bei Stavaric zur rauen Auseinandersetzung mit den Elementen, mit Feuer, Wasser, Erde, Luft. Sie berücksichtigt aber auch die Naivität der Wahrnehmung, die vieles monströs verzerrt, anderes wieder wundersam auflädt. Die surreale Welt, die dabei entsteht, ist deshalb keine künstlich konstruierte, sondern Teil eben dieser Wahrnehmung - selbst ein Naturgesetz, das hier seine erzählerische Form gefunden hat.

    Michael Stavaric' neuer Roman heißt "Brenntage" und ist im C.H. Beck Verlag, München 2011 erschienen. Er hat 231 Seiten und kostet 18,95 Euro.