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Rivalität der alten mit der neuen Zeit

Trotz aller psychologischen und politischen Brüche, die die Welt des Romans "Der Sohn des Akkordeonspielers" durchziehen, erscheint die baskische ETA insgesamt als vergleichsweise harmlose Organisation. Für viele Leser dürfte es schwer erträglich sein, den Terrorismus in der Darstellung von Bernardo Atxaga ausgerechnet in seiner vergleichsweise friedlichen Frühzeit zur Kenntnis zu nehmen, in einer Zeit, als die Anliegen von ETA vielen Menschen noch als ernstzunehmende politische Option erschienen.

Von Kersten Knipp | 08.12.2006
    Das Akkordeon wird man zu den eher melancholisch anmutenden Instrumenten zählen dürfen: Sehnsüchtige Melodien aus den Tiefen der Moll-Töne, weiche Phrasierungen, schluchzende Akkorde aus sanft gepresster Luft. Kaum ein Instrument, das sich sehr für nostalgische Gefühle eignet wie das Akkordeon. Gerade darum aber gehört es zur Kunst des baskischen Autors Bernardo Atxaga, einen Roman mit dem Titel "Der Sohn des Akkordeonspielers" eben nicht als Hymne auf die Vergangenheit zu gestalten, sondern stattdessen, wenngleich recht behutsam, dem allzu träumerischen Blick auf das Instrument ein paar weniger beschauliche Realitäten aus der jüngeren spanisch-baskischen Geschichte entgegenzustellen. Der Sohn des Akkordeonspielers ist nämlich einer, der das Instrument zwar auch beherrscht - es aber irgendwann nicht mehr spielen will, weil zu viel falsche Empfindsamkeit daran hängt, eine Empfindsamkeit, die auf das engste mit den kulturellen Gepflogenheiten während der Hochzeit des Franco-Regimes in Verbindung steht.

    Zwar verbot Franco später alle Äußerungen eines baskischen Nationalismus, zu dem auch das Akkordeon zählte. Zugleich galt es aber auch als Symbol jener ländlichen Idylle, an der den Propagandisten des Regimes so gelegen war. Und so konnte sich auch mancher baskische Akkordeonspieler für das Regime begeistern, sich während des Bürgerkriegs auf Seiten der Aufständischen schlagen. Darüber lud auch mancher Musiker sein Quantum Schuld auf sich.

    So auch Angel, eben jener Akkordeonspieler, von dem im Titel des Romans die Rede ist. Er war im Spanischen Bürgerkrieg für die Erschießung mehrerer Republikaner verantwortlich - und genau diese Tat wird rund zweieinhalb Jahrzehnte später die Beziehung zu seinem Sohn gründlich vergiften. Denn nachdem David, vom Verbrechen des Vaters erfahren hat, mag er das Instrument nicht mehr anfassen, die Kunst des Vaters nicht in die nächste Generation führen. Die Kindheitsidylle hat auf immer einen Riss.

    Doch eben vor jenem Riss entfaltet der 1951 geborene Atxaga Bilder von durchaus idyllischem Charakter. Soeben sind die 60er Jahre angebrochen, in dem kleinen Ort Obaba - eine Fantasieschöpfung des Autors, die er bereits in seinem 1988 veröffentlichten Roman namens "Obabakoak" anklingen ließ - scheint sich das Leben in einem Raum jenseits aller Zeit abzuspielen. "1960, ja sogar noch 1970", heißt es in dem Roman, "hatten die Menschen von Obaba etwas ganz Eigentümliches, schienen einem anderen, viel älteren Land zu entstammen. [...] Ein Beispiel dafür waren Lubis, Pancho, Ubanbe und viele andere. Sie sahen prall gefüllte Apfelsäcke und konnten jede Sorte benennen: 'Das hier sind espuru, das domentxa, und das gezeta. Sie sahen Schmetterlinge und sagten wie aus der Pistole geschossen. Das ist ein mitxirrika, das ein txoleta, und das ein inguma. Namen, die niemandem von denen etwas sagten, die zwar noch in Obaba lebten, aber die 'modernen Werte' übernommen hatten wie zum Beispiel meine Schulkameraden. Oder auch ich.'"

    Oder auch ich - Es ist dieser Hintergrund einer gebrochenen Identität, der Rivalität der alten mit der neuen Zeit, die dem Roman seinen eigenartigen Zauber verleiht. Wie zuletzt Jorge Semprun in seinem Roman "Zwanzig Jahre und ein Tag" und Manuel de Lope in "Fremdes Blut" lässt Atxaga seinen Roman auf verschiedenen Zeitebenen spielen - und verleiht ihm dadurch eine von allem Kitsch befreite Poesie. Hier die nüchterne Gegenwart, dort eine dramatische Vergangenheit - aus dieser Spannung lassen sich bewegende Effekte schlagen. David, der Sohn des Akkordeonspielers, mag sich noch so an den Naturschauspielen des Baskenlands erfreuen, eine besondere Liebe zum Landleben empfinden -ganz und gar zu Hause wird er in seiner Heimat niemals fühlen.

    Dieses Entsetzen vor faulem Frieden und dem furchtbaren Verbrechen des Vaters werden David schließlich in die Hände von ETA treiben. Doch die ETA der späten 60er, frühen 70er Jahre ist noch nicht jene ruchslose Mörderbande, als die die Gruppierung mit ihren über 800 Morden heute bekannt ist. Damals, in den frühen Jahren, ging es um Agitation gegen das Franco-Regime, einen Widerstand, der sich vor allem am Geist der postkolonialen Befreiungskämpfe jener Jahre inspirierte. Frantz Fanon, Che Guevara, Patrice E. Lumumba hießen die Helden jener Zeit. Tatsächlich halten Begriffe wie Imperialismus, Entnationalisierung, Volkskultur und Entfremdung auch im verschlafenen Obaba Einzug und wecken bei David das Interesse für die Politik. Dieses Bewusstsein richtet sich zunächst gegen ein Denkmal für die Gefallenen des Spanischen Bürgerkriegs - das freilich nicht an alle, sondern nur die auf Francos Seiten Gefallenen erinnert. Später sucht die ETA-Aktivisten - als Terroristen kann man sie mit ihren vergleichsweise harmlosen Taten noch nicht bezeichnen - die Arbeiter einer baskischen Werft in einer gewagten Nacht-und-Nebel-Aktion über den Unrechtscharakter des Francoregimes aufzuklären.

    Dann aber, Mitte der 1970er Jahre, radikalisiert sich das Denken, verhärtet sich die Ideologie: ETA entwickelt sich zur brutalen Terrororganisation, schreckt auch vor Gewalt gegen Menschen nicht mehr zurück. Die bisherige Zurückhaltung wird aufgegeben. Zitat: "Damals - ich rede vom Jahr 1976 - gab es keine Möglichkeit, aus der Organisation auszusteigen. Gerüchte über eine Spaltung machten die Runde, heftige Diskussionen zwischen Befürwortern des 'rein politischen Weges' und der 'militärischen Linie' standen auf der Tagesordnung. Alle, die eine gemäßigte Linie vertraten, waren in den Augen des militärischen Arms Verräter, Konterrevolutionäre. Diesen Ausweg würden sie niemals zulassen."

    David findet schließlich einen Ausweg. Welchen, sei hier nicht verraten. Auf jeden Fall findet er ihn früh genug, um nicht dem enthemmten Terror zu verfallen, den ETA fortan pflegt. Eben das macht aber auch die entscheidende Schwäche des Romans aus, auf den auch die spanische Kritik hingewiesen hat: Trotz aller psychologischen und politischen Brüche, die die Welt dieses Romans durchziehen, erscheint ETA insgesamt als vergleichsweise harmlose Organisation. Für viele Leser, insbesondere die, die die Gewalt von ETA am eigenen Körper oder im eigenen Umfeld erfahren haben, dürfte es schwer erträglich sein, den Terrorismus ausgerechnet in seiner vergleichsweise friedlichen Frühzeit zur Kenntnis zu nehmen, in einer Zeit, als die Anliegen von ETA vielen Menschen noch als ernstzunehmende politische Option erschienen. Angesichts der terroristischen Exzesse von ETA dürfte es manchem Akkordeonspieler einigermaßen schwer fallen, auf seinem Instrument noch heitere Weisen anzustimmen.

    David rührt es schon vorher, wegen der Verbrechen der Franco-Zeit, nicht mehr an. Von Atxaga hingegen sollte man für die Zukunft kein Schweigen erwarten - sondern einen Roman, der sich mit den Schrecken des heutigen Terrors auseinandersetzt.