Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Rivka Galchen: "Amerikanische Erfindungen"
Wie in einer Zeitschleife

Eine Frau findet sich plötzlich um Jahrzehnte zurückversetzt - in eine Zeit vor Feminismus und Bürgerrechten. Mit ihrer Mischung aus Realismus und Groteske erinnern Rivka Galchens Erzählungen in "Amerikanische Erfindungen" an Borges oder Gogol.

Von Antje Deistler | 10.02.2017
    Amerikanische Oldtimer am Straßenrand, Bisbee, Arizona, USA, Nordamerika.
    Rostige Autos in Kleinstadt Bisbee in Arizona, USA. (dpa / picture alliance / Benjamin Beytekin)
    Eine Frau ist zuhause und kocht keine Spaghetti. Als ein fremder Mann anruft, der offenbar ihre Telefonnummer mit der eines Lieferservice verwechselt, nimmt sie seine Bestellung für ein Knoblauchhuhn umstandslos an.
    "Ich befand mich wieder in der Küche, kochte noch immer keine Spaghetti und trug ein T-Shirt. Nicht dasselbe, in dem ich aufgewacht war, aber doch eines, das sich am besten als Nachtzeug beschreiben ließe und in dem ich mich auch nicht besonders wohl, männlich oder flachbrüstig fühlte. Giotto? Es war 11.22 Uhr. Ich hätte meine Zeit lieber damit verbringen sollen, Zitronenhuhn für diesen Mann zu kochen, dachte ich. Oder Knoblauchhuhn. Was auch immer. Ich kam mir vor, als hätte ich eine wichtige Verantwortung so komplett vernachlässigt, dass ich mir nicht einmal eingestehen konnte, sie überhaupt zu haben. Nahm ich die Bestellung dieses Mannes wirklich so ernst?
    Wenigstens aß ich nicht.
    Ich beschloss, nicht im Internet zu surfen.
    Dann, mir keine Fernsehshow anzusehen." (Zitat)
    Jahrzehnte des Feminismus scheinen nie stattgefunden zu haben
    Die Frau in "Die verlorene Ordnung", der ersten Geschichte in Rivka Galchens Buch "Amerikanische Erfindungen" hat nichts zu tun, versucht wenig zu essen und dreht durch. Doch obwohl ihr langweiliger Tag in der Folge immer absurder wird, beschreibt sie diese Absurditäten – ebenso wie Alltägliches in ihrer Nachbarschaft - glasklar.
    "Die Tagesstunden in diesem Viertel gehören fast ausschließlich den Lieferboten und Nannies. Die Boten sind alle Männer. Und die Nannies alles Frauen. Und die Frauen alle dunkelhäutig. Ich hatte mir keine großartigen Gedanken über die sozioökonomische Ballung oder Genderhäufung in meiner Nachbarschaft gemacht, bevor ich ein Tageslichtgespenst wurde. Ich meine, klar, ich wusste es so ungefähr, aber plötzlich war es deutlich – im Schutz des Tages sah man oder schien man jedenfalls zu sehen, dass die Jahrzehnte des Feminismus und der Bürgerrechtsfortschritte nie stattgefunden hatten." (Zitat)
    Den Boden unter den Füßen verlieren, aber nicht den Durchblick
    Rivka Galchens Geschichten haben alle eins gemein: Sie fußen auf der Wirklichkeit, führen aber gleichzeitig aus ihr heraus. Ihre Hauptfiguren – immer Frauen oder Mädchen – verlieren den Boden unter den Füßen, aber nicht den Durchblick. Was nicht heißt, dass sie zwischen Wahrheit und Wahn unterscheiden können, das nicht. Kategorien wie Realität, Tatsachen, Wirklichkeit, fallen bei ihr aus, was aber völlig vernünftig beschrieben wird. Das nimmt groteske, dadaistische Formen an. Wie in der Episode um die junge Frau, deren Möbel und Gebrauchsgegenstände eines Tages die Wohnung verlassen.
    "Ein Geräusch. Ich schaute nach oben, wieder zu meinem unbeleuchteten Fenster. Irgend... etwas schälte sich dort aus der Dunkelheit. Zunächst sah es aus wie ein Nichts, das sich eine billige Form zugelegt hatte. Aber als es herabstieg – und es stieg herab -, nahm es eine ontologisch klarere Gestalt an. Es war mein Bügelbrett." (Zitat)
    Nicht nur das Bügelbrett macht sich davon, geschmeidig, so heißt es, "wie eine Seekuh". Auch alle anderen Möbel, Betttücher, Dinge bis hinunter zur Gabel marschieren an der Ich-Erzählerin vorbei. Die verliebt sich am Ende unglücklich in einen hübschen Polizisten. Das eine hat wenig mit dem anderen zu tun, aber so ist das in den amerikanischen Erfindungen der gebürtigen Kanadierin Galchen: Keine Erwartung wird erfüllt. Stattdessen gewöhnt man sich schnell ab, etwas zu erwarten. Die meisten Geschichten nehmen irgendwann eine Wendung zu etwas völlig anderem. Der Reiz liegt in der klarsichtigen Beschreibung von allem, von Absurditäten und Banalitäten.
    Geschichten nehmen Bezug auf kanonische Erzählungen der Weltliteratur
    "Manchmal, beim Eintunken meiner McDonaldland-Kekse – FryGuy, Grimace -, hielt ich den Keks zu lange in die Milch, sodass er sich vollsaugte und auf den Boden des Bechers sank. Dort wurde er zu etwas Mehligem, Vulgärem. Grauenhaft. Ich verlor den Appetit. Obwohl die Oberfläche der Milch oft unberührt war, spürte ich die Anwesenheit des Kekses dort unten, lauernd. Wie ein uriger bodenlebender Fisch mit beiden Augen auf der Kopfseite. Dann kippte ich den Becher langsam zurück, um zu sehen, was ich zu sehen befürchtete, nur um dieses schwummrige Vorgefühl, zu wissen, dass das richtig schwummrige Gefühl noch kommen würde, die vorweggenommene Übelkeit." (Zitat)
    Dieses Kekse essende Mädchen wird sich zum ersten Mal verlieben, was sie in tiefe Verwirrung stürzt. Eine der realistischsten und anrührendsten Erzählungen in diesem Buch. Auf dem Boden der Tatsachen steht bei Rivka Galchen sonst kaum jemand. Weder die Frau, die einem Zeitreisenden begegnet, noch die, deren Mann einen Blog betreibt mit dem Titel "Ich kann meine Frau nicht ausstehen.Blogspot.com". Davon lassen sich die Protagonistinnen aber nicht verunsichern.
    Die Verunsicherung besteht einzig und allein aufseiten der Leser. Der Verlag weist darauf hin, dass Galchens Geschichten mit kanonischen Erzählungen der Weltliteratur korrespondierten. Die titelgebende Story "Amerikanische Erfindungen", in der einer Frau eine dritte Brust seitlich am Rücken wächst, sei beispielsweise ein Echo von Gogols "Nase". Andere spielten auf Werke von Keats oder Borges an.
    Treffende Wirklichkeitsbeschreibungen angesichts der aktuellen Lage
    Das mag sein. Man kann sich aber auch erinnert fühlen an Robert Anton Wilson, Autor der Illuminatus-Trilogie, der in den 1970er Jahren unter dem Eindruck der Watergate-Affäre um Präsident Nixon sagte: "Wenn die Politik der Lüge normal wird, werden Paranoia und Entfremdung zum Normalfall des Alltags". Angesichts der aktuellen Lage in den USA – Stichwort "alternative Fakten" – wirken Rivka Galchens verrückte Wirklichkeitsbeschreibungen treffend und geradezu prophetisch.
    "Während ich, irgendwie zu meiner Milch gelangt, an den Tisch zurückgehe, frage ich mich, ob ich grün bin oder einen schrillen Pfeifton von mir gebe oder ob ich tot bin." (Zitat)
    Rivka Galchen: Amerikanische Erfindungen. Storys. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald und Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag Reinbek, 208 Seiten, die gebundene Ausgabe kostet 19.95 Euro.
    Sendetipp: Am Freitag, den 10.2.2017 sendet der Deutschlandfunk um 20.10 Uhr ein Feature über Robert Anton Wilson (Illuminatus Trilogie, geschrieben mit Robert Shea): "Operation Mindfuck"