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Robert Sapolsky: "Gewalt und Mitgefühl"
Von der Mehrdeutigkeit der Gewalt

Nach den Bestsellern "Warum Zebras keine Migräne kriegen" und "Mein Leben als Pavian" hat der US-Primatologe und Neurowissenschaftler Robert Sapolsky nun eine Abhandlung über die Antagonismen Gewalt und Mitgefühl und menschliches Verhalten an sich vorgelegt.

Von Peter Henning | 20.12.2017
    Anti-Regierungsproteste in Altamira, östlich von Caracas, Venezuela. 6. März 2014.
    Robert Sapolsky dringt in seinem Buch in neuronale Sphären ein, in denen Entscheidungen für Gewalt und gegen Empathie und umgekehrt getroffen werden. (imago / Xinhua)
    Als die Protagonisten des sogenannten "Gladbecker Geiseldramas", Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, am 17. August 1988 in Bremen- Huckelriede einen voll besetzten Bus der Bremer Straßenbahn AG kaperten, hatte sich das seinerzeit hitzeflirrende Deutschland in Rösners Kopf längst in zwei unvereinbare Teile gespalten: Hier, auf der einen Seite, so gab er später zu Protokoll, waren "wir" - also er, sein Mitstreiter Degowski und seine Freundin Marion Löblich. Und auf der anderen Seite waren "sie", - nämlich all die verhassten Polizisten, Medienvertreter und Gaffer, die ihnen den Fluchtweg aus der bis heute spektakulärsten Geiselnahme der deutschen Nachkriegsgeschichte versperrten. Von diesem, am Beispiel des deutschen Geiselnehmers vorgeführten Bewusstsein einer Spaltung in ein "wir" und ein "sie" handelt Robert Sapolskys groß angelegte Studie über die biologischen Ursprünge von "Gewalt und Mitgefühl".
    "Rösnerhaftes Bewusstsein" als Nukleus komplexer Verhaltensweisen
    Nicht dass der seit 1988 noch immer hinter Gitter sitzende Rösner im Buch des amerikanischen Primatologen Erwähnung fände – nein. Gleichwohl aber ortet und seziert Sapolsky darin ein solches rösnerhaftes Bewusstsein als den Nukleus komplexer, weitreichender Verhaltensweisen. Das Bestreben Rösners, der aus dem verqueren Bewusstsein handelte, für sich und die Seinen "das Richtige zu tun", zugleich aber all jene, die seinem Streben entgegenstanden, als Feinde begriff, stünde - nach Sapolsky - für eine genetisch im Menschen verankerte Verhaltensweise: Also für die von Rösner seinerzeit darum offenbar intuitiv vorgenommene Einteilung in "Wir" und "sie",Freund und Feind.
    Stammesmitglieder "verdienen Empathie"
    Gemeint ist die Idee vom sogenannten "Stammesdenken", das auf der grundsätzlich vorgenommenen Einteilung in "wir" und "sie" beruht. Stammesmitglieder verdienen qua ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe a priori Empathie. Stammesgegnern dagegen wird mit natürlicher Skepsis begegnet. Wie bindend dieses "Stammesdenken" ist, zeigte sich einen Tag später in Köln, als der damalige "Express"-Journalist Udo Röbel kurzerhand in den in der Innenstadt stehenden, von zahllosen Journalisten umringten Wagen stieg - und die Geiselnehmer aus der Stadt lotste. Später sagte Rösner in einem Interview mit Blick auf die dubiose Rolle Röbels: "Der war jetzt einer von uns!" Röbel, so Rösners Verständnis, war Teil seines Stammes geworden.
    "Scheinbar selbstverständliche Gruppenbildung"
    Robert Sapolskys Buch zeigt, auf welch kuriose Weise solche Stämme sich mitunter bilden können. Als Beispiel führt er eine Episode während der Dreharbeiten zu dem 1967 entstandenen Kino-Klassiker "Planet der Affen" an. In dem Science Fiction-Film treffen Menschen auf einem erdenfernen Planeten auf Affen. Sapolsky schildert, wie sich damals in einer Drehpause beide Gruppen plötzlich wie selbstverständlich voneinander trennten: Auf der einen Seite saßen die als Affen kostümierten Schauspieler und nahmen ihr Mittagessen ein; auf der anderen die Menschendarsteller - ein wahrhaft kurioses Bild. Denn offenbar hatte schon die äußerliche Unterscheidung genügt, um unter den jeweiligen Gruppenmitgliedern eine Art Stammes-Zugehörigkeitsgefühl zu stiften. Das Beispiel zeigt, wie scheinbar selbstverständlich Gruppenbildung funktioniert: "Du siehst aus wie ich! Also gehörst du zu meinem Stamm - und verdienst meine Empathie!"
    "Wie infrage gestelltes Gruppendenken in Gewalt münden kann"
    Ein Begriff, der nun ins Spiel kommt, ist jener der Ambivalenz. Sapolsky widmet sich der Frage, wie ein Mensch - ähnlich wie der erwähnte Geiselnehmer Rösner - zu seiner intuitiv vorgenommenen "Wir-sie"-Einteilung kommt. Sein Weg dorthin - das zeigt Sapolsky - erscheint häufig schwer nachvollziehbar. Doch aufgrund welcher getroffenen Entscheidungen schlägt er ihn in welche Richtung ein? Weshalb entscheidet er sich für Gewalt oder gegen sie? Was lässt ihn Mitgefühl empfinden – und was Ablehnung? Und mit welcher Konsequenz? Zugleich zeigt sein Buch, wie infrage gestelltes Gruppendenken in Gewalt münden kann – und wie ambivalent diese Gewalt sich uns ebenfalls häufig darstellt.
    "Wir hassen und fürchten nämlich nur die falsche Art von Gewalt, Gewalt im falschen Kontext. Denn im richtigen Kontext verhält es sich mit der Gewalt ganz anders ... Die Mehrdeutigkeit der Gewalt - dass wir die Betätigung eines Abzugs sowohl als entsetzliche Gewalt wie als aufopfernden Patriotismus verstehen können - macht sie so problematisch. Gewalt wird daher immer ein menschlicher Erfahrungsbereich bleiben, der extrem schwer zu verstehen ist."
    Neuronale Sphären, die über Gewalt oder Empathie entscheiden
    Von dieser Annahme ausgehend beleuchtet Sapolskys Buch die Biologie von Gewalt, Aggression und Konkurrenz - und die Verhaltensweisen und Impulse, die ihnen zugrunde liegen und die sie steuern. Denn was geschieht in einem Menschen in jener alles entscheidenden Sekunde, in der er sich entschließt, den Abzug einer Schusswaffe zu betätigen - und zu feuern? Wie entstehen Ablehnung, Hass und Krieg? Welche neurologischen Prozesse gehen dem voraus? Und weshalb entwickeln wir in anderen, scheinbar sehr ähnlich gelagerten Momenten plötzlich das genaue Gegenteil - nämlich Mitgefühl?
    All das versucht der Autor anhand zahlreicher Fallbeispiele herauszuarbeiten. Dabei dringt er in jene neuronalen Sphären ein, in denen Entscheidungen für Gewalt und gegen Empathie und umgekehrt getroffen werden.
    Weitverzweigte Archäologie menschlicher Verhaltensweisen
    Abschließende Antworten darauf, weshalb wir uns mal für das eine – dann wieder für das andere entscheiden, gibt sein Buch nicht. Vielmehr liefert es uns bildhafte Einsichten in die unterschiedlich verlaufenden Entscheidungsprozesse. So führt uns das vorliegende Buch tief ein in die weitverzweigte Archäologie menschlicher Verhaltensweisen – und damit in die geheimen Kammern unseres Wesens mit all seinen faszinierenden Widersprüchen und Paradoxien. Wir sehnen vieles und begreifen einiges. Schutz vor uns selbst oder anderen aber bietet uns das nicht.
    "Wir laufen immer Gefahr, dass Menschen uns Schaden zufügen können. Die Tendenz der Menschen, einander Schaden zuzufügen, ist aber weder universell noch unvermeidlich. Die Wissenschaft beginnt, Wege zu zeigen, wie wir sie vermeiden können. Meinem pessimistischen Ich ist es schwergefallen, das zuzugeben. Aber es besteht tatsächlich Anlass zum Optimismus."
    Mag sein. Denn tatsächlich lag die Zahl aktenkundiger Gewaltverbrechen in Deutschland im Jahr 2016 bei 193.524. Das waren knapp achttausend weniger Delikte als noch im Jahr 2010. Trotzdem sind es immer noch zu viele.
    Robert Sapolsky: "Gewalt und Mitgefühl"
    Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Aus dem Englischen von Hainar Kober. Carl Hanser Verlag, München 2017. 1024 Seiten, 38 Euro