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Roberto Morassut im Interview
"Rom ist kein Ausbildungsplatz für neue politische Führungskräfte"

Lange Zeit war undenkbar, dass die Verflechtungen zwischen organisierter Kriminalität, Wirtschaft und Politik auch in Rom wuchern sollen. In welchem Ausmaß, das wird aktuell in einem Maxiprozess aufgearbeitet. Vor Gericht steht die Mafia Capitale. Wie ihre Strukturen in Rom wachsen konnten, analysiert der römische Journalist Pietro Spataro im Interview mit dem römischen PD-Politiker Roberto Morassut.

Von Sarah Zerback | 25.04.2016
    Wer in Rom den Abfall entsorgt, Straßen baut oder Flüchtlinge unterbringt - das entschied jahrelang die Hauptstadt-Mafia. Deren Mitglieder bestachen hohe Kommunalpolitiker und Beamte, um lukrative öffentliche Aufträge an Land zu ziehen. Mit verheerenden Konsequenzen, wie die Autoren von "Roma senza Capitale" auf rund 200 Seiten darlegen.

    "Das städtische System ist kollabiert. Quasi nichts funktioniert mehr. Geld, das dringend nötig wäre, um eine Stadt wie Rom instand zu halten, ist in dunklen Kanälen versickert. Das ist nicht erst seit gestern so, aber das Gift der rechten Politik hat gewissermaßen ein renovierungsbedürftiges Haus komplett zerstört."

    Die Schuld trage die politische Rechte, daran lässt der Mitte-Links-Politiker Roberto Morassut keinen Zweifel, und der Interviewer Pietro Spataro macht es ihm hier auch nicht allzu schwer. Was der rechtsextreme Gianni Alemanno ab 2008 in fünf Jahren als Bürgermeister angerichtet habe, das hätte sein Nachfolger in zwei Jahren nicht wiedergutmachen können. Ignazio Marino wollte die Mafia bekämpfen und fuhr ab 2013 mit dem Rad ins römische Rathaus – bis herauskam , dass er mit der Amtskreditkarte seine privaten Restaurantbesuche in fünfstelliger Höhe beglich. Da musste auch er seinen Hut nehmen.
    Mariono war ohne Erfahrung in Rom chancenlos
    Für seinen Parteikollegen Roberto Morassut war das jedoch nicht der eigentliche Grund für Marinos Scheitern. Vielmehr sei der ehemalige Chirurg aus Genua einfach kein politischer Insider gewesen.
    "Es geht darum in der Politik und in der Verwaltung vernetzt zu sein. Rom ist kein Ausbildungsplatz für neue politische Führungskräfte. Um die italienische Hauptstadt zu führen, muss man direkt ins Herz der Probleme vordringen können. Und seine Fremdheit hat schwer dazu beigetragen, dass Marino auch als Fremdkörper wahrgenommen wurde, als Marsmensch."
    "Il Marziano", so wurde Marino wiederholt in den Medien genannt. Bezeichnenderweise lautet so auch der Titel seiner eigenen Version der Geschichte, die soeben als Autobiografie erschienen ist. Gehen musste er vor allem, weil ihm die Unterstützung und die Erfahrung fehlten, so die Analyse Morassuts. Er habe die römische Seele nicht verstanden, die römische Unterwelt mit ihren geschlossenen Strukturen, die über Jahrzehnte gewachsen sind und die den Nährboden bieten für Korruption und Vetternwirtschaft. Geschichtlich bereiten Spataro und Morassut diese Entwicklung rückwirkend auf, bis zur italienischen Einheit 1861.
    "Fragen wir uns für einen Moment wonach wir unseren politischen Anführer in der Vergangenheit ausgewählt haben. Auf der Basis seiner Fähigkeiten? Immer weniger. Auf der Basis seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Sippschaft? Immer mehr. Wir müssen verstehen, dass der Klientelismus der Virus unserer Gesellschaft ist."
    Ein Virus, gegen das Rom nur langsam Antikörper bildet. Schon seit den Siebzigern herrschte in Rom eine Mafiaorganisation, die fast alle Bereiche der Stadt unterwanderte. Doch erst nachdem der Korruptionsskandal um die Mafia Capitale im Dezember 2014 ans Licht gekommen ist, wird auch in der Hauptstadt offen von Mafia gesprochen. Seitdem müssen sich 46 Politiker und Beamte in einem der spektakulärsten Prozesse in der Geschichte Italiens vor Gericht verantworten, darunter Ex-Bürgermeister Gianni Alemanno.
    Wer nun allerdings erwartet, dass Morassut konkret auf den aktuellen "Maxiprozess" eingeht, der voraussichtlich im Juli abgeschlossen sein wird, wird enttäuscht. Stattdessen beklagen Spataro und Morassut, dass die Jahrtausendstadt Rom weit unter ihren Möglichkeiten bleibt.
    "Rom ist eine Hauptstadt ohne Kapital. Im doppelten Wortsinn. Die Stadt hat nicht die ausreichenden Rechte einer echten Hauptstadt. Es gibt weder ausreichend öffentliche noch private Mittel, um diese wichtige Rolle auszufüllen."
    Der Schlüssel liege darin, sich zu öffnen. Der Mitte-Links-Abgeordnete Morassut plädiert für ein modernes Rom, das insgesamt europäischer wird.
    "Das Modell, auf das wir schauen müssen, ist meiner Meinung nach Berlin: Eine Stadtregion, in der es wie in allen wichtigen Metropolen Europas und der Welt ein spezielles Regierungssystem gibt, good governance. Auch wir brauchen ein schlankeres Verwaltungswesen, effektive Gesetze und eine neue demokratische Idee."

    Vakuum lässt Raum für Populismus
    Und dazu müsse der Bürger wieder stärker mit eingebunden werden, um die Flucht der Politik, wie Morassut sie nennt, zu stoppen. Um das Vakuum zu füllen, das so viel Raum lasse für Populismen. Potenzial jedenfalls gebe es dafür genug, wie aktuelle Entwicklungen erkennen ließen.
    "Es bilden sich viele kleine Gruppen, die sich gegen den Verfall engagieren. Sie reinigen die Straßen, die öffentlichen Parks und Mauern. Sie überwachen ihre Stadtviertel und fördern dort Integration, Solidarität und Nachbarschaftshilfe. Das ist wahnsinnig effektiv, führt zu großartigen Resultaten, auch mithilfe der Sozialen Netzwerke."

    Bürger, die in Eigenregie das leisten, was die Politik versäumt. Spataro bleibt dem Leser auch hier eine kritische Nachfrage schuldig, Morassut einen konkreten Lösungsvorschlag. Denn so klar die Analyse der Probleme der Vergangenheit ist, durch die Fehler in der Zukunft vermieden werden sollen, so vage bleiben die Lösungsvorschläge in "Roma senza Capitale". Ganz staatsmännisch spricht Morassut von einer neuen Idee der ewigen Stadt. Von einem Rom, das zurückerobert werden müsse durch Politiker, die sich offen gegen den alten Filz stellen. Kein leichtes Unterfangen, und er selbst wird es so bald nicht umsetzen können. Bei seiner Kandidatur um das Amt des römischen Bürgermeisters, die er kurz nach Erscheinen des Buches bekannt gab, unterlag er in der Vorwahl. Doch ein künftiger Bürgermeister Roms wird Visionen wie die Morassuts brauchen, um die Stadt ohne und gegen die Mafia zu regieren.
    Pietro Spataro intervista Roberto Morassut:
    "Roma senza capitale: La crisi del campidoglio, il bisogno di una riscossa civica", Edizioni Ponte Sisto, Dezember 2015, 228 Seiten, 13,50 Euro