Freitag, 19. April 2024

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Roberto Prosseda spielt Mendelssohns Klavierwerke
Alles außer Gefälligkeit

Joseph Haydn und Felix Mendelssohn Bartholdy teilen ein gemeinsames Schicksal – sie werden bis heute unterschätzt. Bei Haydn ist es das Klischee vom gemütlichen "Vater Haydn", das meilenweit am Kern seiner Musik vorbeigeht, bei Mendelssohn das vom ewigen Wunderkind, das gerade am Klavier vorwiegend Gefälligkeitsmusik hinterlassen hat.

Von Christoph Vratz | 03.05.2017
    Die Büste Felix Mendelssohn Bartholdys im Leipziger Museum des Mendelssohn-Hauses.
    Schrieb tief empfindsame romantische Klaviermusik: Felix Mendelssohn Bartholdy (Archiv Mendelssohn-Haus Leipzig)
    Musik: Mendelssohn, Lied ohne Worte op. 19, Nr. 5
    Die "Lieder ohne Worte" zählen zum Bekanntesten, was Felix Mendelssohn Bartholdy für Klavier komponiert hat – aufgeteilt in acht Gruppen zu je sechs Stücken; einige Werke ohne Opuszahl kommen noch hinzu. Alle denkbaren Stimmungen bringt Mendelssohn hier auf kunstvoll komprimierte Weise zum Ausdruck: Enthusiasmus und Trauer, Jagdfieber und Melancholie. Das Außergewöhnliche vollzieht sich immer im Kleinen – wie bei diesem "Venezianischen Gondellied" aus op. 30: Mitten in die sanft wogende Begleitung platzt ein erster Ton – wie ein Fremdkörper! Dann folgt ein Decrescendo wie ein Nachklang auf den ersten Schreck. Danach erst schält sich gesanglich die eigentliche Melodie heraus.
    Musik: Mendelssohn, Lied ohne Worte op. 30, Nr. 6
    Auf engstem Raum erzählt Mendelssohn seine Geschichten. Sie haben nichts Oberflächliches, und jeder Pianist, der auch nur einen Ansatz von Verharmlosung oder gar Verniedlichung wagt, würde bei Mendelssohn scheitern. Bei dem späten A-Dur-"Lied ohne Worte" aus op. 102 wird die Melodie durch eine nervöse Begleitung aufgeraut. Von Idylle keine Spur. Vielmehr scheinen die vorwärtsdrängende Oberstimme und die eher besänftigende Unterstimme in deutlichem Kontrast zueinander zu stehen.
    Musik: Mendelssohn, Lied ohne Worte op. 102, Nr. 5
    Roberto Prosseda deutet dieses Lied ohne Worte wie ein Duell der Gedanken, bei dem die Einfälle in Windeseile hin- und herfliegen. Im Jahr 2005 hatte der italienische Pianist damit begonnen, sämtliche Klavierwerke Mendelssohns aufzunehmen. Doch auf dem deutschen Markt waren diese Aufnahmen nie richtig erhältlich. Jetzt, nachdem der Zyklus 2015 abgeschlossen worden ist, liegt eine Edition mit zehn CDs vor – eine pianistische Großtat, und das in mehrerlei Hinsicht. Zum einen gibt es nicht viele Mendelssohn-Gesamteinspielungen, und die wenigen, etwa mit Howard Shelley, können nicht rundum überzeugen. Zum anderen bringt Prosseda alles mit, was ein Mendelssohn-Interpret von Rang braucht: den Sinn fürs Ariose, für melodische Bögen; die Klarheit im Anschlag, die auch auf dem modernen Flügel noch erkennen lässt, wie die historischen Instrumente des 19. Jahrhundert geklungen haben; und schließlich beweist Prosseda ein sicheres Gespür für die Spannungsbögen dieser Musik und für die kleinen Dehnungen bei Übergängen – denn wer große Gesten setzt, degradiert Mendelssohn zum Kitsch-Komponisten.
    Musik: Mendelssohn, Präludium & Fuge op. 35 Nr. 1
    Im ersten der selten aufgeführten Präludien und Fugen op. 35 spinnt Prosseda helle Fäden inmitten der schnellen Begleitfiguren. Den Kontrast dazu bildet dann die Fuge. In den geheimnisvollen Passagen spielt Prosseda so, als schaue man der Musik direkt auf den Grund:
    Musik: Mendelssohn, Präludium & Fuge op. 35 Nr. 1
    Die allmählich anschwellende Steigerung, hin zu den Forte-Akkorden gelingt Prosseda überzeugend. Der dann ein wenig zurückgenommene, aber doch relativ zügig gespielte Schlusschoral bekommt dadurch eine versöhnende Bedeutung.
    Die Edition umfasst auch die Werke für Klavier zu vier Händen bzw. für zwei Klaviere sowie etliche kleinere Stücke, die Roberto Prosseda erstmals auf CD zugänglich gemacht hat, darunter vor allem Einzelsätze, aber auch vier Sonaten von 1820 sowie eine Originalbearbeitung dreier Sätze aus dem "Sommernachtstraum":
    Musik: Mendelssohn, Scherzo, aus "Sommernachtstraum"
    Einziges Manko dieser musikalisch außergewöhnlichen Edition ist das Klangbild. So sehr es zu begrüßen ist, dass Prosseda insgesamt drei verschiedene Flügel-Fabrikate ausgewählt hat und auch dadurch auf Farbenvielfalt abzielt – die jeweiligen Instrumente klingen wie in einem zu engen Raum, also eher dumpf und stumpf. Dem Klangbild mangelt es durchweg an Natürlichkeit und Räumlichkeit. So stehen Prossedas gestalterische Feinheiten leider nicht in dem aufnahmetechnischen Umfeld, die sie verdienen. Schade!