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Gerhard Roth: "Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier"
Noch ein Tod in Venedig

Der Übersetzer Emil Lanz hat genug vom Leben und will Selbstmord begehen. Doch alles kommt anders, als er Zeuge eines Mordes wird. Mit seinem neuen Roman legt Gerhard Roth den zweiten Teil seiner Venedig-Trilogie vor. Dem neuen Lagunen-Krimi fehlt es aber vor allem an Spannung.

Von Andrej Klahn | 04.10.2019
Gerhard Roth, "Die Hölle ist leer - die Teufel sind alle hier"
Wurde als Mahner wider die österreichische Geschichtsvergessenheit bekannt: Gerhard Roth (Buchcover: S. Fischer Verlag / Foto: Philipp Horak)
Also noch ein Venedig-Roman. Dabei biegen sich unter den venezianischen Reisebeschreibungen und literarischen Lagunen-Geschichten die Regalböden. Sicher, es ist herausragende Prosa darunter, von Joseph Brodksy oder Harold Brodkey, um stellvertretend nur zwei Schriftsteller zu nennen, die im Register der Venedig-Enthusiasten unter dem Anfangsbuchstaben "B" zu finden sind. Mindestens ebenso zahlreich aber sind die literarischen Kunsthandwerker, die die morbide Schönheit der Kanäle, Plätze und Palazzi zu kitschigen Kulissen zerschnitzt haben.
Doch Gerhard Roth ist über den Verdacht erhaben, mit seinen Venedig-Romanen bloß auf verkaufsträchtige Serenissima-Effekthascherei zu setzen. Mit dem siebenbändigen Werkzyklus "Die Archive des Schweigens" rückte der heute 77-jährige Schriftsteller ab Mitte der 80er in die vorderste Reihe der österreichischen Gegenwartsliteratur auf. Sein Name wurde in einem Atemzug genannt mit dem von Peter Handke oder Thomas Bernhard.
Roth pendelte damals literarisch zwischen Stadt und Land – und lotete die Abgründe der österreichischen Geschichte aus. Immer wieder verwischte er dabei schreibend die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit. In seinen Romanen ließ er Außenseiter und psychisch Gestörte auftreten, um den von ihm so deklarierten "Stumpfsinn der Normalmenschen" offen zu legen.
Venedig sehen und sterben
Und: Gerhard Roth hat in seinem Werk schon öfter mit dem Genre Kriminalroman gespielt. So zuletzt auch schon im ersten Teil seiner Venedig-Trilogie. Der zweite Teil "Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier" kommt nun ebenfalls als "venezianische Verbrechensgeschichte" daher. Im Mittelpunkt steht der schwermütige, deutsche Übersetzer Emil Lanz. Selbstmordgedanken treiben ihn um. Zu Beginn bricht der Wahl-Venezianer auf, um sich umzubringen:
"Da alles ruhig und der Himmel von anziehender Schönheit war, fiel ihm ein, dass es ein guter Tag war, um zu sterben. Er duschte, putzte sich die Zähne und kleidete sich an, denn er spürte, dass er jetzt wirklich bereit war, sich das Leben zu nehmen. Er blickte auf die Uhr: Es war elf Minuten nach sechs, also war es einfach, in ein Vaporetto zu steigen und irgendwohin zu fahren, wo es ruhig war. Der Lido oder das offene Meer waren ihm zu pathetisch für einen Abgang. Es sollte wie das Allerselbstverständlichste passieren und kein Aufsehen erregen. Eigentlich wollte er nur endlich aus seinem eigenen Leben verschwinden."
Venedig sehen und sterben – das ist eine altbekannte Geschichte. Bei Gerhard Roth nimmt sie schnell eine unvorhergesehene Wendung. Seit Lanz‘ untreue Frau bei einem Flugzeugabsturz umgekommen ist, führt der Übersetzer ein einsames Dasein auf dem Lido. In seiner Wohnung türmen sich Bücherstapel, während er den Eindruck hat, das Leben zu versäumen. Doch bevor sich Emil Lanz auf der Insel Torcello eine Kugel ins Herz jagen kann, beobachtet er unter einem Holunderbusch versteckt, wie drei finstere Gestalten einem Mann die Kehle durchschneiden.
Die großen Zweifel am Thriller
Lanz gerät zwischen die Fronten rivalisierender Schlepperbanden, er bandelt mit zwei Frauen an – und ein sagenhaft reicher Gönner wird sich seiner annehmen. Schnell sind alle Suizidgedanken verflogen. Stattdessen kämpft Lanz nun plötzlich umgekehrt darum, sein Leben zu retten.
Das Problem allerdings ist: Lanz selbst hat erhebliche Zweifel am Realitätsgehalt des Thrillers, den er durchlebt. Denn bevor er den Mord beobachtete, hatte er nicht weniger als drei Flaschen Wein getrunken. Das macht ihn zu einem unzuverlässigen Zeugen. Skepsis ist also angebracht, zumal die Handlung konsequent aus der Sicht eines personalen Erzählers geschildert wird.
Ein strippenziehender Halbgott
Am verfallenen "Ospedale al Mare" stößt Lanz auf ein Graffito, das geradezu als Gebrauchsanweisung des Romans gelesen werden kann:
"Der breite Durchgang und das silberne Eingangstor, das aus zwei Flügeln bestand, waren mit der Bezeichnung »Ospedale al Mare« versehen, die Mauer darüber war weiß gestrichen und in schwarzen, eigenwilligen Buchstaben stand zu lesen: REALITY IS NOT WHAT YOU THINK IT’S AN ANCIND LYNK (…) Er hatte es sich noch nie genauer angesehen, aber jetzt stellte er fest, dass der erste Teil in seltsamen Blockbuchstaben ausgeführt war, während der zweite in lateinischer Schreibschrift hinzugefügt worden war. Es war nicht schwer zu übersetzen: ‚Wirklichkeit ist nicht, was du denkst‘, aber der zweite Teil war kryptischer: ‚Sie ist ein uraltes, zentrales Überwachungssystem.‘"
Wiederholt fragt sich Lanz selbst, ob nicht er es war, der auf Torcello gestorben ist. Ist Roths Held gar nicht unterwegs zurück ins Leben, sondern, ganz im Gegenteil, auf wilder Fahrt ins Jenseits? Und zwar in ein Jenseits, das als luxuriös ausgepolsterte weiße Welt seines Nachbarn Signor Blanc erscheint, der tatsächlich wie ein allmächtiger Gott die schützende Hand über Lanz hält. Dieser Signor Blanc ist ein seltsam abwesender, strippenziehender Halbgott im Hintergrund, der im Garten seiner Villa biblische Pflanzen kultiviert und eine gigantische Sammlung von Globen aufgebaut hat. So metaphyselt Roths Roman spielerisch vor sich hin.
Es kommt keine Spannung auf
Als Gewährsmann bei diesem literarischen Balanceakt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Realität und Illusion dient hier William Shakespeare. Ist der Roman-Titel "Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier" doch nicht ohne Grund dessen Drama "Der Sturm" entliehen. Zentrale Figuren und Motive des Stückes kehren bei Roth mal mehr, mal weniger abgewandelt wieder. Man kann diese Bezüge durchaus raffiniert finden und sich einen bildungsbürgerlichen Spaß daraus machen, die versteckten Anspielungen fleißig zu enträtseln.
Allein: Wie schon mit "Die Irrfahrt des Michal Aldrian" will Roth auch in diesem Roman eine "venezianische Verbrechensgeschichte" erzählen – und das misslingt ihm leider dann doch gründlich. Denn so überdeutlich er seinen Anspruch ausstellt, mehr als nur ein bisschen Donna Leonisches Venedig-Parfüm zu versprühen, so wenig gelingt es ihm, mit dem allzu simplen Plot Spannung aufzubauen. An genretypischen Szenen fehlt es indes nicht.
"Lanz war augenblicklich wach. Er schlüpfte in die Schuhe und riss die Windjacke von der Garderobe, bevor er auf die Straße lief. Ihm fiel ein, dass er die Glock-Pistole neben seinem Bett liegen gelassen hatte, er machte kehrt, holte die Waffe, kam wieder heraus und verschloss die Haustür. Im selben Augenblick kam ein roter Kastenwagen die Straße in Richtung Strand hinunter, bremste in Panik und geriet ins Schleudern. Aber Lanz war schon in die Mitte der Straße gelaufen, hatte aus den Augenwinkeln erkannt, dass auf dem Nissan eine Wäschereireklame zu sehen war, und geistesgegenwärtig die Seitentür aufgerissen, um ins Auto zu springen."
Der eigentlich hochprofilierte Autor unterfordert sich selbst
Diese Szene mag stellvertretend stehen für den uninspirierten Actionreichtum, mit dem Gerhard Roth sich selbst unterfordert. Seine schnörkellos heruntererzählten Verfolgungsjagden und Schießereien haben geradezu etwas Pflichtschuldiges. Quietschende Reifen, spritzendes Blut, holzschnittartig gezeichnete Dunkelmänner. Es wirkt, als arbeite Roth eine Suspense-Rezeptur ab, nach der selbst Fernsehthriller schon lange nicht mehr funktionieren.
Michael Aldrian, die Hauptfigur aus Gerhard Roths erstem Venedig-Roman, reiste in die Lagune, um vor Ort für einen unkonventionellen Reiseführer zu recherchieren. Und bisweilen hat man den Eindruck, als sei das auch das eigentliche Anliegen von Gerhard Roth: Venedig schreibend neu zu entdecken. Daran ist er nicht gescheitert, wohl aber am Kriminalroman.
Gerhard Roth: "Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 368 Seiten, 25 Euro