Donnerstag, 18. April 2024

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Vor 100 Jahren geboren
Stimme für die Opfer der NS-Terrorherrschaft

Er schrieb mehr als 50 "Lieder aus der Hölle" des KZ Sachsenhausen und sammelte das musikalische Vermächtnis seiner Mithäftlinge. Mit seinem Repertoire ging er in den Nachkriegsjahren auf Reisen: Heute vor 100 Jahren wurde der Sänger und Komponist Aleksander Kulisiewicz geboren.

Von Dorota Danielewicz-Kerski | 07.08.2018
    Gefangene im Konzentrationslager Sachsenhausen im Dezember 1939
    "Grausam, grotesk, ausdrucksstark" seien die Lagerlieder des Musiker Aleksander Kulisiewicz, so ein Musik-Experte. Im Bild: Gefangene im Konzentrationslager Sachsenhausen (imago stock&people)
    "Die lebenden Steine" ist der Titel des Liedes, das der Sänger und Musiker Aleksander Kulisiewicz 1943 im Konzentrationslager Sachsenhausen komponierte. Den Text hatte der polnische Schriftsteller Wlodzimierz Wnuk zwei Jahre zuvor im Lager Mauthausen verfasst. Er erzählt von den Gefangenen, die dort in Steinbrüchen hart arbeiten mussten, und, grau vom Staub, selbst zu Stein geworden sein schienen.
    "Ein kulturelles Welterbe gerettet"
    Unter Todesgefahr gesungen, um ihre Menschenwürde zu wahren und sich nicht ganz brechen zu lassen: In den mehr als fünf Jahren seiner Haft schrieb Kulisiewicz über 50 solcher Lagerlieder, viele davon vertonte er auch. Doch er ließ sich auch von den Mithäftlingen ihre eigenen Lieder vorsingen und hob sie in seinem Gedächtnis auf. Schwer tuberkulosekrank diktierte er nach der Befreiung 1945 einer Krankenschwester 800 Manuskriptseiten Liedgut allein aus der Erinnerung.
    Der Musikwissenschaftler Michał Kłubiński von der Universität Warschau: "Aleksander Kulisiewicz hat durch seine beispiellose Leistung, das Lagerleben zu dokumentieren, ein kulturelles Welterbe gerettet. Die Form von Lyrik, die er überlieferte, ist einzigartig: Sie ist grausam, grotesk, ausdrucksstark und durchdrungen vom Geist der polnischen Romantik."
    Widerstand gegen Hitler und seine Schergen
    Aleksander Kulisiewicz, am 7. August 1918 in Krakau als Sohn einer ungarischen Musikerin geboren, entwickelte früh ein lebhaftes Interesse an Musik, lernte Geige spielen, trat als Kunstpfeifer mit einem Roma- Ensemble auf. Gerade einundzwanzigjährig veröffentlichte er einen Zeitungstext gegen Hitler, wurde verhaftet und 1940, nach mehreren Gefängnisaufenthalten, in Sachsenhausen interniert.
    Dort organisierte er bald im Geheimen Liederabende, sang vom bizarren Alltag des Lagers, aggressiv, spöttisch, voller Hass oder bitterer Ironie. Doch er versuchte auch, Mut und Hoffnung auf ein Überleben zu verbreiten, Schmerzen und Hunger zu überlisten, wie mit seinem Lied "Kartoschki", "Kartoffeln". Mehrmals versuchten die KZ-Ärzte, Kulisiewicz´s Stimmbänder durch die Injektion von Diphtheriebazillen zu zerstören. Doch es gelang seinen Freunden, ein Gegenmittel zu beschaffen.
    Cover der LP "Chants de la déportation" von Alex Kulisiewicz | Verwendung weltweit
    Cover der LP "Chants de la déportation" von Aleksander Kulisiewicz (dpa)
    Musikalisches Zeugnis von den Nazi-Gräueltaten
    In den Nachkriegsjahren ging Aleksander Kulisiewicz mit dem ganzen Schatz seines gesammelten Liedgutes auf Reisen: in Europa, den USA, sogar in Japan trug er mit seiner markanten Stimme die "Lieder aus der Hölle", wie eins seiner Alben heißt, immer wieder vor.
    Aleksander Kulisiewicz: "Ich glaube, zuerst, damals im Jahre 1965, ich habe mehr Publikum von jungen Leuten als zum Beispiel heute. Das Publikum war manchmal sehr aufgeregt. Sie fragten: Warum singe ich diese Lieder? Aber die Mehrheit war immer für mich, die Menschen mit Herzen hörten alle zu. Das war das beste Publikum."
    "Unangenehm für das deutsche Ohr"
    Oft trat er auch in Deutschland auf - und trug auf der Bühne stets gestreifte Häftlingskleidung. "Zum Beispiel auf Burg Waldeck. Da kamen zu mir die jungen Leute. Sie haben zu mir gesagt, warum ich hierher gekommen sei? Du bist für uns wie ein fauler Zahn. Die Eltern sagen zu uns, nimm eine Tablette, das geht vorbei. Aber wir wissen alle, dass der Zahn immer noch steckt. Man muss ihn ausziehen. Und ich wusste, dass diese Lieder unangenehm für das deutsche Ohr sind", berichete Aleksander Kulisiewicz.
    Eines der Lieder, das er ständig in seinem Repertoire mit sich führte, trug den Titel "Jüdischer Todesgesang", eine Erinnerung an den polnischen Komponisten Rosebery d‘ Arguto, den er in Sachsenhausen kennen gelernt hatte und der 1943 ermordet wurde.
    Umfangreicher Nachlass
    Die Wohnung in Krakau, in der Kulisiewicz nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1982 lebte, war überfüllt mit Aufnahmen von Liedern, Fotos, Bildern, Gedichten, Briefen und Textdokumenten aus der Lagerzeit. Der umfangreiche Nachlass befindet sich heute in der Holocaust- Gedenkstätte in Washington - 52.000 Meter Tonbandbelege und 10.000 Meter Mikrofilme.